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Maus [Prosa]

schmiertiger mausDer Satz, dass sich ein Mensch zellulär alle sieben Jahre erneuert, nagt an mir, als ich mein Smartphone in die Hosentasche gleiten lasse und auf die Klingel drücke. Wir kennen uns länger als das.

Bienes langes, meist offenes, einst rotes, jetzt aschblondes Haar ist zu einem Dutt gesteckt. Das ist sogar besser so. Man sieht jetzt ihren Hals, der sonst unter den breit gefächerten, dicken Haaren versteckt ist und unter dem Eindruck des klugen Kopfes und der großen Nase verschwindet. Ich lächle auch, ich kann nicht anders, als sie die Tür öffnet, ihren Kopf leicht zur Seite neigt und lächelt, mit Zähnen. Nur für einen Moment und dann sagt sie „Hey“ und ich sehe, wie ihre großen blauen Ohrringe den zierlichen Hals umspielen. Wir umarmen uns und es fühlt sich an wie ein Déjà-vu, nur aus den falschen Gründen. So etwas kommt inzwischen öfter vor. Es überrascht mich nur, als ich die Schuhe ausziehe, den Blick kurz durch den Flur schweifen lasse, und merke, dass sie die ersten von uns sind, die eine Bodenheizung haben.

Der Boden ist warm und draußen ist der Herbst. Markus ist noch nicht da, auf Arbeit dauere es etwas länger, informierte Biene mich als sie mich ins Wohnzimmer führte. Zur Not müssen wir zu zweit mit dem Bus zum Konzert fahren.
Ich bin das erste Mal hier. Der Wind zerdrückt Wassertropfen an der Scheibe des Wohnzimmerfensters. Die Lichter der Stadt ziehen Fäden darin. Das Sofa, auf dem ich Platz genommen habe, stammt aus einer anderen Zeit. Neu sind die Stoffpuppe, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Beistelltisch liegt und das Paar Kinderschuhe, das meine Augen in der gegenüberliegenden Ecke des Wohnzimmers finden. Mein Räuspern durchbricht die Stille. Sie beobachtet mich, wie ich alles beobachte. Ich frage nach Musik und nehme noch einen Schluck des Weines, den sie mir erst beschrieb, bevor sie ihn in die großbäuchigen Gläser goss.
„Wie geht’s Nele?“ Ich verschlucke mich fast.
„Keine Ahnung.“
„Wie?“
„Keine.Ahnung… sie ist weg.“
„Ach… warum?“
„Zu selbstgefällig.“
„Wer, sie oder du?“
„Hehe… Scherzkeks.“

Ich will das Thema nicht weiter verfolgen, bin froh, Knistern aus den Boxen zu hören. Livin‘ off borrowed time, the clock tick faster, spricht Doom aus der Vergangenheit. Sie sieht mich an, prüft, ob ich den Song wiedererkenne. Er nimmt mich zurück zu einer Zeit, in der es noch passierte, dass es fünf Uhr in der früh sein konnte und man an einem Bahnhof in der Provinz strandete. Schädeldecke an Schädeldecke lagen wir auf einer kalten Bank, teilten uns die Kopfhörer. Ich könnte sogar sagen, wer den linken, wer den rechten hatte, aber behalte es für mich. Wir haben den Song auf Repeat gehört, bis der erste Zug kam. Bei der Zeile Your first and last step to playin‘ yourself like accordion fühle ich mich etwas unwohl, weil ich mich frage, ob wir das gerade tun.
Sie sieht mir dabei zu, wie ich das zweite Glas leere und nimmt die leere Flasche vom Tisch, ihr Glas ist noch voll, und verschwindet damit aus der Tür. Ich schaue ihr nach, schaue ihr auf den Arsch, auch wenn es keine Rolle spielt. Aber hat es das jemals?

*

Biene ist noch nicht zurückgekehrt, als das Telefon auf dem Wohnzimmertisch vibriert. Ich hebe es auf, Markus ruft an, ich überlege kurz, abzunehmen, rufe stattdessen „Telefon!“. Sie antwortet „hier!“, ich folge ihrer Stimme in die Küche, wo sie vor einer Flasche Rotwein steht, in die ein Korkenzieher gebohrt wurde. Ich stehe einen Moment verloren da, widme mich dann der Weinflasche, drehe den Korkenzieher langsam ein und belausche sie beim Gespräch. Sie sagt „Sebastian ist schon da“, „wir trinken Wein“, dann „mal sehen“ und „ruf an wenn es was Neues gibt.“ Die Förmlichkeit, mit der sie meinen Namen sagt, gibt mir eine Pause. Sonst war es immer Basti.

Mit einem Plopp ziehe ich den Korken aus der Flasche, sie bemerkt es nicht und murmelt „mh“ ins Telefon und nickt dabei. Ich nehme die Flasche und gehe aus der Küche in den Flur. Kurz überlege ich, stehen zu bleiben und weiter zu lauschen, höre aber, wie sie unterdessen das Gespräch beendet. Also gehe ich weiter als mir ein heller Schrei durchs Mark fährt und der Wein auf dem Parkett zerschellt.

Wir treffen uns im Türrahmen der Küche und fragen synchron „was ist passiert?“ Sie sagt „Maus“, ich antworte „Flasche“ und wir schauen uns kurz an.
„Hast du nen Lappen?“
„Ja… nein: Die Maus!“
„Welche Maus?“
„Mir ist grad ne Maus über die Füße gelaufen!“
„Was für ne Maus?“
„Eine weiße!“
„Habt ihr Mäuse?“
„Nein, natürlich nicht… hätte ich mich sonst so erschrocken?“
„Was ist jetzt mit dem Lappen… der Rotwein…“
„Hol du einen… Küche… Spüle… Fuck hab ich mich erschrocken.“

Mit einer Rolle Küchenpapier finde ich sie im Flur über den Scherben kauernd. Es sind nicht viele, der Hals ist von der Flasche gebrochen. Der Parkettboden ist in rot getaucht. Ich lasse den Wein vom Küchenpapier aufsaugen, während sie den Boden nach Scherben absucht und dabei kein Wort sagt. Ob es an der Konzentration liegt oder daran, dass sie vielleicht sauer ist, weil ich den guten Wein habe fallen lassen, ist schwer zu sagen. Unsere Unterarme streifen sich kurz, ich frage mich, ob es ihr auffällt, wie es mir auffällt.

Mit einem durchtränkten Berg Küchenpapier gehen wir in die Küche. Sie wirkt nervös, den Blick an den Boden geheftet. „Es ist nur ne Maus“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Wer weiß was für Krankheiten die hat“, schnauft sie. Sie öffnet den Mülleimer, ich stopfe den roten Zellstoff hinein, als sie zurückschreckt, sich mit einem Schwung auf die Arbeitsplatte setzt und auf den Boden zeigt: „Da! Da! Da!“ (Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht).

Die Maus hatte sich hinter dem Mülleimer versteckt und läuft jetzt unter ihren in der Luft baumelnden Beinen den Küchenschrank entlang, in Richtung Tür. „Die Tür“, ruft sie, springt zurück auf den Boden und gibt der Küchentür einen kräftigen Stoß, begleitet von einem hochfrequenten Quieken. Wir schauen uns verdutzt an: von der Maus ist nichts zu sehen, sie ist aus der Tür, im Flur, aber ihr Schwanz, so scheint es, steckt fest.
„Was jetzt?“
„Weiß nicht… Hast du ein Behältnis, vielleicht erwisch ich sie am Schwanz.“
„Ich such erstmal Handschuhe, die kannst du doch nicht so anfassen!“
„Klar, warum nicht?“
„Was wenn die Krankheiten hat?“
„Sie ist weiß, wahrscheinlich ist es das Haustier von jemandem im Haus?“
„Vielleicht ist es auch eine Labormaus!“
„Und?“
„Na vielleicht hat man sie infiziert!“
„Bis du stoned?“
„Was?!“
„Nichts… gib mir halt einfach ein paar Gummihandschuhe.“

Hochfrequentes Schaben. Die Maus will sich aus ihrer Lage befreien, während ich darauf warte, dass mir Handschuhe gegeben werden. Ich kauere mich auf den Boden bei der Tür, kann den Schwanz der Maus aber nicht sehen. Ein Eimer und gelbe Handschuhe werden mir gereicht. Die Bewegungen auf der anderen Türseite werden intensiver. Ich gebe Biene ein Zeichen zum Öffnen der Tür, bin aber zu langsam, um die Maus zu erwischen. Sie läuft den Flur entlang und verschwindet in ein anderes Zimmer. Hinterlassen hat sie auf dem Flur eine dünne rote Blutspur, wie ein roter Faden, der ständig reißt. „Das Schlafzimmer!“, tönt es unangenehm in meinem Ohr. Biene wirkt ziemlich aufgelöst. „Ist doch nicht so wild“, versuche ich sie zu beruhigen, aber sie sagt, dass sie sich unmöglich beruhigen kann, wenn die Wildnis gerade in ihr Schlafzimmer eingefallen ist. Ich muss darüber schmunzeln, aber Bienes Miene bleibt hart. Vielleicht erinnert sie das an etwas, das sie lieber vergessen hätte.

Wir stehen etwas ratlos im Flur, als hinter uns die Wohnungstür geöffnet wird. „Ihr seht aus, als hättet ihr einen Geist gesehen“, sagt Markus und steht in einem langärmligen, blass-blauen Hemd in der Tür. Auch wenn ich das nicht wissen kann, bin ich mir sicher, dass die zahlreichen Festivalbänder um sein rechtes Handgelenk verschwunden sind.
„Was ist das auf dem Boden?“
„Mäuseblut.“
„Was ist das?!“
„Blut. Wir haben eine Maus!“
„Habt ihr sie getötet?“
„Nein, nicht ganz… nur am Schwanz etwas.“
„Hm.“
Ich begrüße Markus mit einer kurzen Umarmung, dabei sagt er „Schön dich zu sehen.“ Wir stehen zu dritt kurz im Flur und schauen uns an. In einer viertel Stunde beginnt das Konzert, erinnere ich beide, um in Bewegung zu kommen. Ob sie eine Mausefalle haben, frage ich. Aber Biene sagt nein und dass es auch keine Rolle spielt, sie geht zu keinem Konzert, solange eine Maus in ihrer Wohnung ihr Unwesen treibt und vielleicht noch die Sachen der Kleinen besudelt. Ohnehin, wir haben We Were Promised Jetpacks schon letztes Jahr gesehen. Da ist es nicht schlimm, wenn man zu spät kommt. „Mann oder Maus“, sagt Markus, gibt mir einen Klaps auf den Rücken und ich gebe ihm einen der Handschuhe und sage, dass es vielleicht am besten wäre, wenn wir das Tier aufscheuchen und es mit einem Laken oder einer Decke fangen.

*

Im Schlafzimmer fällt mir auf, dass beide noch das alte Bett haben. Sonst ist es recht minimalistisch eingerichtet: Ein großer Kleiderschrank, ein Beistelltisch neben dem Bett, eine Stehlampe daneben, das wars. Das dürfte also kein Problem werden, die Spur führt unter das Bett.
„Na dann mal los“, sagt Markus etwas genervt und geht ums Bett, um sie von der anderen Seite aufzuscheuchen, damit ich sie dann fangen kann.
„Ich seh‘ sie nicht“, sagt Markus mit dem Kopf unter dem Bett.
„Kannst du die Blutspur erkennen, vielleicht ist sie hinterm Schrank.“
„Nein, nix zu sehen.“

Wir stehen eine Weile ratlos im Schlafzimmer und kratzen uns am Kopf. Wir müssen beide lachen, als wir uns so im Doppelglas des Fensters sehen. Biene steht hinter uns, schaut uns komisch an, sagt, „ihr macht das schon“, und geht aus dem Zimmer. Markus ruft ihr hinterher, sie solle ihm ein Bier bringen, für den Fall, dass das noch länger dauert. Inzwischen dürfte die Vorband spielen, denke ich und habe keine Lust mehr, noch länger hier zu sein und Mäusejagd zu betreiben.

„Habt ihr sie?“, fragt Biene von der anderen Seite der Tür.
„Nein, noch nicht.“
Durch einen Spalt reicht sie ein Bier. Markus nimmt die Flasche, trinkt einen großen Schluck und setzt sich auf das Bett, lockert die Krawatte, öffnet den obersten Knopf des Hemdes und atmet hörbar aus. Ich stehe etwas verloren da, sollten wir nicht nach der Maus suchen?
„Jetzt hat sie dir gar keins mitgebracht.“
„Nicht schlimm.“
„Dann teilen wir.“
Ich wünschte, das hätte er nicht gesagt.
Auf dem Bett sitzend hören wir in die Stille nach verräterischen Geräuschen und hören doch nur unseren Atem. Geister. Erinnerungen. Bilder zwischen meinen Augen. Auf diesem Bett, wir drei, seine Hände auf ihren Brüsten, ihre Zunge in meinem Mund, einige Finger von mir in ihr, die andere Hand auf seinem Schenkel, das Frösteln danach, rote Gesichter, drei Mal Atem füllt den sonst geräuschlosen Raum, das feuchte Laken, die Blicke, die sich nicht begegnen, auch wenn sie sich still aus den Augenwinkeln heraus suchen. Ich frage mich, ob man jemand anderes ist, wenn Beziehungen sich verändern oder ob sie sich nur verändern konnten, weil man sich selbst verändert hat. Ich stelle diese Frage fast laut, weil mir die Stille zu viel wird. Stattdessen nehme ich noch einen Schluck Bier, reiche ihm die Flasche und dann ist Biene zu hören: „Die Maus! Hier!“

Als wir die Schlafzimmertür öffnen, sehen wir Biene im gegenüberliegenden Kinderzimmer auf einem kleinen roten Stuhl stehen und gestikulieren. Es ist ein komischer Anblick, ich versuche nicht zu lachen. Mir wird das zu viel. Ich will Regentropfen auf mir vom Wind zerdrücken lassen, in den Lichtern der Stadt. Ein eigenes Bier und laute Musik. Ist das Konzert wie letztes Jahr, werden langsam lauter werdende Akkorde durch die Konzerthalle schallen, schneller, lauter, das Publikum wird unruhig werden und mich wie eine Welle mitnehmen.