Zwei Jahre nach dem letzten Stelldichein am Messering hat die zur Biennale reformierte Ostrale nun in der historischen Tabakfabrik f6 in Striesen eine neue Bleibe gefunden. Schon vor der Eröffnung der zentralen Ausstellung haben seit dem 11. Juni dezentrale Ausstellungsräume im gesamten Stadtgebiet geöffnet. Unter der Überschrift sums¡ gibt es bis zum 1. September also im ganzen Stadtgebiet wieder zeitgenössische Kunst zu bestaunen – die zentrale Ausstellung allein bringt so viel Kunst unter einem Dach zusammen, dass es die geistige Aufnahmefähigkeit an ihre Grenzen bringt.
Nach re:form nun also sums¡. Gemeint sind natürlich keine summenden Insekten, sondern – richtig rum geschrieben – ismus. Insekten begegnen dem Besucher also eher in Form von Werken, die sich mit neudeutsch environmentalism auseinandersetzen. Inwiefern es sinnvoll ist, ein so mächtiges Aufgebot von Kunstwerken von mehr als 100 Künstlern unter einer Überschrift zu versammeln, ist eine Frage, die man durchaus stellen kann. Andererseits kann man sich kaum ein breiter zu fassendes Thema als Ismus denken. Kann man nicht alles irgendwie als Teil eines Ismus begreifen? Und so gibt es dann auch Kunstwerke zu sehen, die mit “Umlaufbahn” oder “Zeit” überschrieben sind – beides abstrakte Malereien von Manja Barthel.
Es bedarf also einiges an Hirnakrobatik, wenn man die diesjährige Ostrale zu sehr mit ihrem Thema im Kopf beschreitet. So ging es zumindest mir, als ich mir einzelne Werke anschaute und mich fragte, welcher Ismus darin wohl aufgegriffen wird. Die Ausstellung selbst überlässt den Besucher hier sich selbst, eine thematische Ordnung der Werke beispielsweise nach ihren Ismen gibt es nicht, der rote Faden muss selbst gesponnen werden. Man sollte sich also nicht zu sehr am Thema aufhängen und unvoreingenommen bleiben. Freilich gibt es Exponate, in denen die Ismen unserer Zeit deutlich zu sehen sind, viele setzen sich mit Themen wie Flucht und Vertreibung auseinander, Terrorismus, Rassismus und Kapitalismus werden in vielen Werken aufgegriffen, zuweilen auch drastisch wie in der Installation “The architecture of violence / Suicide Bomber” von Robert Kunec.
Am schönsten, weil verspielt und einfach zugleich, findet sich das übergeordnete Thema der Ostrale in “Rainbow” von Hu / Hu (siehe Beitragsbild). Die Installation besteht aus unzähligen alten Ansteckern, die farblich angeordnet einen Regenbogen ergeben. Hier finden sich also Abzeichen, hinter denen sich staatliche Institutionen und Ideologien verbergen und somit auch Symbole der Zugehörigkeit und Abgrenzung sind, zu einem Symbol der Vielfalt zusammen. Je weiter man sich von der Installation entfernt, desto mehr verschmelzen sie zu einer kleinen Utopie.
Wie immer ist die Ostrale am besten, wenn man sich von Erwartungen frei macht und sie als kleine Entdeckungsreise durch die internationale zeitgenössische Kunst versteht. In diesem Jahr ist der Anteil von Installationen und Videokunst im Vergleich zur Malerei besonders hoch. Zu entdecken gibt es dabei Kurioses wie die Serie “pros-thesis” von Lawrence Butting. Präsentiert werden sechs mixed-media Box-Assemblagen, die der Besucher selbst durch Öffnen erkunden kann. Die nicht unbedingt jugendfreien Objekte nehmen sich des Fetischismus an. Die Objekte, so steht es im Begleitheft, zeichnen die Beziehung des Künstlers zu einer bestimmten Frau nach. Und am prominentesten äußert sich das darin, dass deren Vagina recht plastisch inszeniert wird. In diesem Boxen finden sich Reliquien dieser Frau, unter anderem Schmuck und Haare. Die Art der Objekte, die der Besucher selbst öffnen muss, beteiligt ihn am Fetischismus. Gleichzeitig stellt sich durch die Zahl der Objekte auch ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Es ist zweifelsfrei Kunst, die den Betrachter aktiviert. Wird der Fetischismus des Künstlers zum Voyeurismus des Betrachters?
Neben “Rainbows” bildet mit “Ghost in the sellotape” eine weitere Installation das Highlight der Ausstellung für mich. Die Japaner Junya Kataoka und Rie Iwatake haben in einem dunklen Raum drei Objekte installiert, die einfache Rollen Klebestreifen an einem Licht vorbeiziehen. Auf die den gegenüberliegenden Wänden findet der Besucher deren “Geister”. Stetig zieht das Objekt den eingelegten Klebestreifen weiter, immer wieder entstehen flüchtige Erscheinungen an der Wand, die gänzlich dem Zufall geschuldet sind und nach wenigen Sekunden für immer verschwinden. Aus dem künstlichen Material des Klebestreifens entstehen Bilder, die wie Mikroskopaufnahmen wirken und eine organische Qualität haben. Es ist eine faszinierende Arbeit, die mit dem Genius des Künstlers spielt. Die Originalität der Idee steht im Kontrast zur Alltäglichkeit des Materials und der zufälligen Bilder, die das Licht dahinter an die Wand wirft.
Auch an neuer Wirkungsstätte und mit neuem Rhythmus als Biennale hat sich die Ostrale ihren Geist bewahrt. Vor allem durch die kleinteiligen Räume der Tabakfabrik ergeben sich besonders im Hinblick auf Videokunst neue Ausstellungsmöglichkeiten, wenngleich ich das offene, weite Areal der Futterställe am Messegelände vermisse. Auch das übergeordnete Thema habe ich in diesem Jahr als etwas den Blick verengend empfunden. Wie dem auch sei: Aufregend, verstörend, kurios, verspielt, sperrig und lebendig – die Ostrale kann es auch noch in Striesen. Schön, dass es sie gibt und hoffen wir, dass das auch in zwei Jahren noch so ist.