Die Kindheit ist gefangen in der Zeit. Wenn sie vergeht, nimmt sie sie mit und es bleiben Erinnerungen, in die der Geist immer wieder hinaubzutauchen versucht. Der Schweizer Rolf Hermann hat diese Erinnerungen in eine bildhafte, warme und poetische Sprache gekleidet, die das innere Auge des Lesers in das von Gipfeln gesäumte Tal seiner Kindheits- und Jugendjahre führt.
Mit Erinnerungen sind diese sieben als Erzählungen beim Rotpunktverlag erschienen Texte in Flüchtiges Zuhause auch am besten umschrieben. Rolf Hermann zeichnet dabei nicht nur die eigene Biografie nach, sondern auch die Veränderungen, die ein Ort über drei Generationen durchmacht. Immer wieder schwört er in seiner feinfühligen, wie Sommerluft mit Leben schwangeren Sprache “das gemeinsame Erleben eines Aufgehobenseins” (38) herauf, in das sich fast unbemerkt Momente des Wandels einschleichen.
In “Wir blickten auf die Schienenstränge” erzählt er zum Beispiel von der beengten Dachwohnung gegenüber des örtlichen Bahnhofs, der die fünfköpfige Familie entwächst. Seine Firmung ist die letzte Familienfeier, die er an diesem Ort erlebt, den er, wie viele andere, über Geräusche einfängt, wie das klingende Geröll eines Flussbettes in der gleichnamigen Erzählung oder in dem Text “Das Knistern der Gletscher”. Die Mehrzahl der Texte sind kürzer als zehn Seiten und so flüchtig wie die Zeit selbst, der dramaturgische Bogen bleibt entsprechend der Art der Texte nur locker gespannt. Spannend ist in erster Line die wunderbare Sprache, die der Autor findet.
Die besten Momente in Flüchtiges Zuhause sind jene, denen der Autor mehr Raum gibt. “Winterschnitt” beginnt mit einem Perspektivwechsel: Rolf Hermann fokussiert sich im ersten Teil hier auf die Routine seiner Großeltern, die einmal im Monat in die Stadt fahren, um neue Kleidung zu kaufen und essen zu gehen. Sein Interesse gilt dem alternden Großvater, der nach der Pensionierung einen neuen Lebensabschnitt beginnt. Als dem Großvater auf der Rückfahrt das Bein einschläft, findet Rolf Hermann dafür einen Vergleich, der den Übergang in eine neue Lebensphase poetisch einfängt:
Die vorübergehende Gefühllosigkeit glich der sanften Irritation, die sich trotz der immer gleichen Abläufe im Verlauf des Tages unten im Tal eingestellt hatte. Allmählich löste auch sie sich auf, wie ein Ameisenhaufen, der sich selber langsam zerlegt, sich verlagert und andernorts von Neuem aufbaut (37).
Im zweiten und dritten Teil berichtet Hermann wieder aus seiner Perspektive, wie sich die Wege der Großeltern mit der seiner Familie an diesen Ausflügen kreuzten und er mit seinem Großvater das erste und auch letzte Mal die Weinreben verschneidet, bevor diese verkauft werden:
Ich würde eine über Jahrzehnte gewachsene Fertigkeit, die nun nicht mehr fortgesetzt würde, in Worten weiterbestehen lassen, weit über die Zeit hinaus, wenn die Reben längst ausgerissen und dem Bau eines Hauses gewichen sein würden (53).
Die Übersetzung der flüchtigen Zeit und der Erinnerungen und Empfindungen, die sie mitnimmt, festzuhalten und über den Wandel hinaus aufzubewahren, ist das übergeordnete Programm des schmalen Bandes. Im längsten Text “Ein Sonntag” will seine Familie ein Kätzchen vor einem grausamen Dorfbewohner retten. Als der Erzähler bemerkt, dass Katzen im Englischen neun statt sieben Leben haben, folgt folgende, auf Metaebene wirkende Bemerkung: “Als müsste man nur die richtige Sprache wählen und schon darf man etwas länger leben” (99).
Flüchtiges Zuhause ist kein aufregendes Buch, es ist eine angenehm ruhige, entschleunigende Lektüre, die vor allem dank ihrer fantastischen, nachwirkenden Sprache überzeugt.
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Flüchtiges Zuhause ist als Hardcover beim Rotpunktverlag erhältlich.