Es ist 1965, und der Erzähler von Helmut Kraussers neuem Roman Freundschaft und Vergeltung blickt fasziniert auf den neuen, einen Jahr älteren Mitschüler am Internat Raven Hall. Anthonys Perspektive auf den barschen, wortgewandten Chris Bradshaw erinnert etwas an die von Nicks auf Jay Gatsby – eine Figur “larger than life”, umhüllt in einer Aura des Geheimnisvollen. Der junge Mann bringt die Dinge am altehrwürdigen, aber finanziell auch ziemlich knappen Internat gehörig durcheinander – Ereignisse, die den blassen Erzähler ein Leben lang beschäftigen sollen.
Die Heranwachsenden in Raven Hall leben laut Erzähler, der sich selbst nur als “Zaungast der Ereignisse” beschreibt, in der “Testosterondiktatur” der Pubertät (S. 16). Chris Bradshaw, einziger Spross eines Industriellen, setzt sich gleich am ersten Tag ob seines Altersvorsprungs und seiner einnehmenden, aber brüsken Art an die Spitze dieser Diktatur jugendlicher Notgeilheit. Er ist in Raven Hall, weil er anderswo wohl keinen Abschluss bekommen hätte. Sein Vater hat Raven Hall mit einer großzügigen Spende unterstützt, ohne die es das Internat vielleicht gar nicht mehr geben würde. Trotz der Spende gibt es kein Geld mehr für Musik- oder Sportunterricht. In diesem Arrangement, Spende gegen Gelegenheit auf einen Schulabschluss, gibt es noch eine Komplikation: Denn Bradshaw Senior hatte eine Affäre mit der viel jüngeren und laut allen Beschreibungen entwaffnend schönen Lehrerin Debbie.
Chris weiß offenbar von dieser inzwischen versiegten Leidenschaft. Nun hat er es auf die junge, aber gerissene Lehrerin abgesehen. Er unterhält den Erzähler und den Rest seiner Zimmernachbarn, denen er in seiner Großspurigkeit gleich neue Namen verpasst hat, mit Anzüglichkeiten, die zwischen ihm und Debbie vorgefallen sein sollen. Debbie wehrt sich gegen diese Gerüchte, indem sie einen anderen Lehrer, der ebenfalls auf sie steht, ins Boot holt. Die Direktorin des Internats, gefangen in viktorianischen Vorstellungen, die mit den anstehenden gesellschaftlichen Umwälzungen nicht Schritt halten werden, ist überfordert. Da ist es nur richtig, dass sie irgendwann spurlos verschwindet.
Die Ereignisse rund um Chris und Debbie eskalieren zusehends – der Erzähler schaut gebannt zu und berichtet von den mysteriösen Vorkommnissen aus der erzählten Gegenwart, über vierzig Jahre später als pensionierter Anwalt, der sich nun als Journalist versucht.
Auf Helmut Krausser ist Verlass: In gewohnt schmissiger Manier und multiperspektivisch serviert er uns eine Mischung aus Mystery Novel und Coming-of-Age-Roman. Er lässt seinen ahnungslosen Erzähler die Ereignisse der Vergangenheit anhand von Interviews mit den beteiligten Personen sowie Polizeiprotokollen dem Leser veranschaulichen und für sich selbst rekonstruieren. Es ist ein unheimlich soghafter Plot mit einer Gatsby-haften, faszinierenden Person im Mittelpunkt, einem illustren Cast aus Nebendarstellern und einer Reihe von Rätseln, die vielleicht, vielleicht auch nicht über die Jahrzehnte gelöst werden.
Freundschaft und Vergeltung ist ein unheimlich unterhaltsamer Roman, ein Page-Turner, über den Sturm und Drang der Jugend als nachhaltig prägende Zeit, die einem Jahre später, als Erwachsener, dennoch als Rätsel erscheint. Empfehlenswert!
*
Freundschaft und Vergeltung von Helmut Krausser ist beim Berlin Verlag erschienen.
Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.