Denkt man an Science-Fiction, denkt man oft an ferne Welten in weiter Zukunft. Autobiografie eines Kraken von Vinciane Despret, einer französischen Wissenschaftsphilosophin, ist jedoch wissenschaftliche Fiktion im wahrsten Sinne: Die mit Zukunftsgeschichten untertitelte Veröffentlichung gibt sich als eine Art Sammelband über Therolinguistik – ein Wissenschaftsfeld, das sich mit nicht-menschlichen Literaturen beschäftigt. Es ist ein faszinierendes, schwer zu kategorisierendes Werk, das Wissenschaft clever mit Philosophie und Literatur verwebt.
Ganz im Sinne einer wissenschaftlichen Veröffentlichung greift Vinciane Despret für Autobiografie eines Kraken auf einen großen Fundus von Quellen zurück, die sowohl in der empirischen Wissenschaft als auch in der Philosophie und Science-Fiction zu verorten sind. Sie erzählt von der Literatur der Spinnennetze, dem würfelförmigen Kot der Wombats als kommunikativem Akt und der Kalligraphie von Kraken – und von einer Gemeinschaft von Menschen, die in scheinbarer Symbiose mit diesen Wirbellosen leben. Wo die Wissenschaft endet und Desprets philosophische Fiktion beginnt, ist für Lesende nicht immer einfach zu entschlüsseln. Immer wieder blättert man zu den Anmerkungen zurück und googelt Namen sowie Titel.
Vinciane Desprets Text setzt sich aus verschiedenen Textarten zusammen – Reden, Anmerkungen, E-Mails – und spielt in einer nahen, aber nicht datierten Zukunft. Im Fokus stehen die Bemühungen der (zukünftigen?) Wissenschaften Geolinguistik, Therolinguistik und Theroarchitektur, die nicht-verbalen Erzählungen der Tiere zu entschlüsseln. Desprets Werk philosophiert also über Sprache und die Wahrnehmung der Welt, indem es die gängige Vorstellung von Kommunikation als etwas Hör- und Sichtbares, in erster Linie Menschliches, unterläuft.
Gleichzeitig hat Autobiografie eines Kraken eine ökologische Dimension: Die Tiere und ihre uns heute noch unbekannten kommunikativen Akte sind schließlich durch die Menschheit beeinträchtigt und bedroht. Es ist ein überraschender, interessanter Text, der – wie seine Ideen selbst – auch in seiner Struktur mit den Vorstellungen von Literatur bricht, indem er sich Kategorisierungen entzieht.
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Autobiografie eines Kraken von Vinciane Despret ist in der Übersetzung von Nicola Denis bei Matthes & Seitz Berlin erschienen.
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