Ein Leben in Angst: Jeanne wächst in einem Walliser Dorf unter dem Dach eines gewalttätigen Mannes auf. Sarah Jollien-Fardells Lieblingstochter ist ein eindringlicher Roman über Gewalt und die Macht, die sie ausübt, selbst, wenn sie versiegt ist. Es ist auch ein Text über eine innere Entwurzelung und das Wallis.
Jeanne ist “immer auf der Hut, […] die Angst klebte mir am ganzen Körper” (9). Ein falscher Blick, ein falsches Wort und der Vater rastet aus. Zumeist trifft es die Mutter, die ihr Leben mit dem Scheusal stumm erduldet. Oft trifft es auch die Schwester, seltener Jeanne. Doch wenn es sie trifft, dann richtig, dann so, dass der Dorfarzt gerufen werden muss. Der sie behandelt und doch wegschaut. So wie alle wegschauen. Niemand schreitet ein. Man meidet die Familie eher.
Während Jeannes Mutter ihr Schicksal erträgt und die Schwester, die vom Vater auch sexuell missbraucht wurde, sich umbringt, scheint Jeanne seinen Fängen äußerlich unbeschadet zu entfliehen. Sie darf auf ein Internat, wird später Lehrerin, lebt in der Stadt. Sie meidet Männer, aber Frauen kann sie an sich heranlassen. Bis zu einem bestimmten Punkt: “Ich liebte, dass sie mich liebte,” (66) erfährt der Leser über Charlotte, der jungen Frau aus wohlhabendem Hause, mit der Jeanne mehrere Jahre eine Beziehung führt. Doch die Kindheit in Angst, der Verlust der Schwester, die Sorge über die Mutter schneiden Jeanne innerlich von ihrer Umgebung ab:
Doch meine glühende Angst, die niemand je beruhigen würde, macht mich zu einer Meisterin darin, einer Frage auszuweichen, mitten im Gespräch zu verschwinden, wenn die Stimmung zu vertraulich wird. ich bin das seltsame Mädchen (45).
Angst und Wut haben Jeanne deformiert. Es ist ihr nicht möglich, loszulassen. Der Vater, das Monster, wohnt auch in ihr. Seine Macht lässt sich nicht brechen. Als sie mit Charlotte eines Tages nach Jahren der Stille ihr Elternhaus besucht, schlägt sie ihre Freundin danach. Es soll nicht ihre letzte Grausamkeit bleiben.
Lieblingstochter ist trotz der dramatischen Erfahrungen physischer wie psychischer Gewalt mit fast gespenstischer Ruhe erzählt. Jeanne berichtet in einer erinnernden Gegenwart von ihrem halben Leben, das, egal wie weit es sich aus dem Heimatdorf entfernt, nur in Beziehung zu ihren häuslichen Gewalterfahrungen abspielt, als säße sie auf einem Spinnennetz, in dessen Zentrum der Vater thront. Es ist ein stellenweise erschütternder Text, der den Finger immer wieder in die nicht heilen wollende Wunde der Erzählerin legt. Er erzählt von Gewalt und ihrer ewig nachhallenden Macht; davon, was es für ein Individuum bedeutet, eine rein negativ besetzte Verbindung zur Herkunft zu haben. Denn auch die Ablehnung zu etwas macht einen davon nicht frei. Und so ist Lieblingstochter letztlich ein Text, der die Bedeutung von Versöhnung unterstreicht. Nicht zwangsläufig zum Täter, sondern mit dem Kontext der Gewalterfahrung: Man kann nicht in die Zukunft gehen, wenn man es nicht irgendwie schafft, die Vergangenheit in sich zu integrieren. Jeannes Weg führt also früher oder später zurück zum Wallis – nicht nur als geografischen Ort, sondern auch zu den Menschen, die stumm geblieben sind.
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Lieblingstochter ist bei Aufbau erschienen.
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