Das beste draus machen: Es heißt ja, Timing sei alles. Gemeint ist dabei wohl die Zusammenführung der richtigen Zeit und des richtigen Ortes. Denkbar schlechtes Timing könnte man es also nennen, wenn man Mitte März eine Flugreise nach Amsterdam unternimmt, während das Coronavirus das öffentliche Leben lahmlegt. Und so stellte ich – am Freitag, den 13. auch noch – mit Ernüchterung auf mein Smartphone starrend fest, dass man in Holland alle Museen schließen und Veranstaltungen absagen werde. Samstag ging der Flug.
Den süßlich harzigen Geruch bemerkt man als erstes, als man mit über den Boden klackerndem Handgepäck aus dem Hauptbahnhof Amsterdam Centraal in Richtung der Fähre läuft. Auch in Zeiten einer sich ausbreitenden Lungenkrankheit entspricht Amsterdam also zumindest in diesem Punkt dem Klischee. Die Fähre führt bei frühlingshaftem Wetter über das IJ in das ruhigere aber mit allerlei Bautätigkeit wohl boomende Amsterdam Noord (es soll wohl auch das inzwischen hippere Amsterdam sein, was sich angesichts der Situation freilich nur schwer überprüfen ließ). Man lässt den Blick schweifen, zu beiden Seiten ist das Ufer von hoher, postmoderner Architektur gesäumt, die die schmalen Backsteinhäuschen entlang der pittoresken Grachten im alten Amsterdam kaum erahnen lässt. Da ist das Silodam Apartmentgebäude, das aussieht, als wäre es aus verschiedenen Hochhausentwürfen zusammengewürfelt und weiter weg das Pontsteiger Hotel, das mit seinen Dimensionen und dem Loch in seiner Mitte als so etwas wie ein neues Wahrzeichen der Stadt gelten kann. Nicht alles schmeichelt dem Auge, doch vieles kommuniziert auf dem zweiten Blick ähnlich wie die Neubauten in Kopenhagen wunderbar mit der Geschichte der Stadt: Manch kühner Entwurf wirkt, als wären Container übereinander gestapelt.
Amsterdam Noord kommt weitaus weniger wuseliger und beengt daher als die Altstadt. Dort sind die Gehwege bekanntlich so schmal wie die Häuser. Geschichtlich gesehen bauten die Amsterdamer ihre engen Häuser, weil die Steuer nach deren straßenseitiger Ausdehnung fällig wurde. Wer erwartet, dass man im Nordteil der Stadt zu neuer Breite finden würde, irrt. Die zweigeschossige Airbnb-Wohnung ist gerade einmal drei Meter breit. Die Begrüßung ist herzlich distanziert: Auf der Küchentheke steht eine Packung Desinfektionstücher bereit. Also kein Händeschütteln, auch kein Ellenbogenshake. Corona, das zeigen die kommenden Tage, macht Small Talk einfach. Man kommt ins Gespräch während ich mich frage, ob die komplette Wohnung vermietet wird angesichts der aufs Nötigste reduzierten, aber geschmackvollen Einrichtung. Keine Bilder, kein Fernseher, Teppich oder Bücherregal: Nordischer Minimalismus regiert. In der unteren Etage, eine Wohnzimmer-Wohnküchen-Kombination, kann sich der Schall so ungehindert von überflüssigem Mobiliar frei entfalten und – wie sich zeigen sollte – durch die dünnen Wände ins Gästezimmer dringen. Gut, dass ich Ohrstöpsel dabei habe. Und schade, dass ich kein Niederländisch verstehe. Meine Gastgeber: Ein hübsches Paar um die 30, freigemacht von allem Überflüssigen, dafür mit bioveganem Kühlschrank und kochendem Teewasser aus dem Wasserhahn. Und: unglaublich liebenswert. In Zeiten, in denen die meisten kulturellen Einrichtungen geschlossen haben, sind nahbare Einheimische mit guten Tipps Gold wert.
Nach dem Check-in und einem sympathischen Schwatz zurück zur Fähre in die Stadt: Die Frage, ob Amsterdam die ungewöhnlichen Umstände auf der Straße anzumerken sind, wird alsbald verneint. Die inneren Grachtengürtel, vor allem in Nähe des Rotlichtviertels, werden von Touristen durchschwärmt. Es ist das Amsterdam, das einem schnell zu viel werden kann: Coffeeshops reihen sich an Headshops, Souvenirladen und Restaurants. Das ist zwar anders, wiederholt sich aber schnell und ist wenig entspannt. Es gilt, sich zwischen rotäugigen Männergruppen und Fahrradfahrern einen Weg zu bahnen. Je weiter man sich vom Hauptbahnhof entfernt, desto ruhiger wird es und der Spaziergang entlang der Grachten lädt ein, durch Käse- und Blumenläden zu stöbern und sich in einer von einheimischen frequentierten Fußballkneipe ein Bier zu gönnen. Dass man nicht aus der Stadt ist, erkennen Holländer scheinbar daran, dass man ein großes Bier anstelle der kleinen 0,25-Gläschen (Flautjes) vor sich stehen hat. Zur Abenddämmerung geht es zurück zur Fähre, von den Gastgebern wurde das Noorderlicht Café auf dem Areal der NDSM-Werft empfohlen.
Wie alle weiteren Tipps ist auch dieser exzellent: Angenehmes Licht, freundlich-ausgelassenes Personal und ein DJ sind die besten Grundvoraussetzungen für einen gelungenen Samstagabend. Nur: Es fehlen die Gäste. Die Einheimischen bleiben zuhause, für Stimmung sorgt lediglich eine der Angestellten, die an diesem Tag ihren Geburtstag feiert. Lallend informiert sie, heute 40 zu werden und bereits Grandma zu sein. “Four kids, a lotta problems!” Dennoch: Tanzen ist an diesem Abend nicht, er endet von Genever angesäuselt vor Mitternacht.
Amsterdam, Sonntag, 18 Uhr: die Situation verschärft sich
Nachdem der erste Tag mit entspannter Bummelei gut verbracht worden war, galt es am Sonntag, etwas gezielter vorzugehen. Da alle Museen geschlossen waren und der ursprünglich geplante Besuch des Rijksmuseums ins Wasser fiel, ging es aufs Wasser: Eine Grachtenfahrt. Es war ein wenig frühlingshafter Tag, daher endete dieser Teil des Pflichtprogramms recht durchgefroren. Es sei dennoch empfohlen: Der Blick vom Wasser auf die aufgereihten Häuser ist wohl so nur hier zu haben. Zum Aufwärmen wurde ein Tipp der Gastgeber befolgt: Im Café Winkel 43 gibt es den wohl besten Apfelkuchen, den ich bisher essen durfte. Das Lokal ist gut gefüllt, das Leben wuselt noch durch die Gassen der Stadt. Noch.
Gut gestärkt folgte ein etwas weiterer Fußmarsch zum botanischen Garten, wo aufgrund der Corona-Situation leider das Schmetterlingshaus geschlossen blieb. Es ist kein besonders großer, aber hübsch angelegter Garten, in dem man gut verweilen kann. Allerdings nicht zu viel: Denn der nächste Tipp des Gastgebers stand auf dem Plan: In der in Amsterdam Noord gelegenen Fromagerie Abraham Kef soll es regulär bis 19 Uhr tollen Käse und guten Wein geben. Man solle reservieren, aber an diesem Tag war auch ohne Vorankündigung ein lauschiges Plätzchen zu finden. Wie viele Dinge in Amsterdam kein günstiges Vergnügen: Bei 17 Euro für fünf Stückchen Käse könnte man sich fast am nicht ganz so teuren Wein verschlucken. Über WhatsApp informiert mich zwischenzeitlich der Gastgeber, dass es eine Pressekonferenz gegeben habe und alle Lokale ab 18 Uhr schließen werden. An den sorgenvollen Mienen des Personals erkennt man, dass diese Nachricht auch zu ihnen gedrungen war. Gemütliches Austrinken war dennoch gestattet und so tigerte man dank des Käses immerhin ohne Bärenhunger aus dem Lokal durch Amsterdam Noord – was aufgrund zahlreicher Baustellen gar nicht so einfach zu navigieren ist.
Was macht man in einer fremden Stadt, wenn alle Museen und Lokale geschlossen haben? Dass die Menschen im Norden auf große Fenster setzen, zahlt sich aus: Mit einem Supermarktbier (lieber Amstel Pils als Heineken Lager) in der Hand auf dem Bett liegend bieten die Nachbarn gegenüber etwas Fenstertheater. Der eine putzt ausdauernd die Küche, der andere tanzt eine ausgefeilte Choreografie für sich allein.
Letzter Tag: Da es wenig Sinn macht, weiter in der Stadt zu verweilen, ruft die Nordsee. Wieder auf Empfehlung ging es mit dem Zug nach Haarlem, einer kleinen Stadt zwischen Amsterdam und Meer. Dort gibt es eine Windmühle und eine beschauliche Innenstadt mit riesiger Kathedrale. Das öffentliche Leben ist weitestgehend zum Erliegen gekommen: Im Amsterdamer Hauptbahnhof ist wenig los, auch in Haarlem kann man ob der zahlreichen geschlossenen Lokale in der Innenstadt nur erahnen, was hier unter normalen Umständen los ist.
Von Haarlem ging es zu Fuß weiter zum Meer durch eine wundervoll abwechslungsreiche Dünenlandschaft aus Feuchtgebieten, kleinen Seen und hügeligen Kiefernwäldern. Mit etwas Glück soll man Wisente grasen sehen. Auch ohne Sichtung, dafür mit dem Gezwitscher nistender Vögel im Ohr, begeistert der Nationalpark Zuid-Kennemerland. Es bieten sich immer wieder Vistas, die festhalten und zu einer kurzen Rast einladen. Es ist eine den Tag füllende, herrliche Wanderung bei bestem Wetter und dann, nach der letzten Düne, liegt der Geruch von Salz in der Luft.
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