Ein Buch für Sommer- und Landlust: In Alte Sorten lässt Ewald Arenz einen in Schieflage geratenen Teenager aufs Land fliehen und dort bei einer enigmatischen Bäuerin unterschlupf finden. Eine ungewöhnliche Freundschaft entsteht, bei der beide die Krisen ihres Lebens konfrontieren müssen.
“Sommerwasser. Man konnte es nur mit den Augen trinken” (S. 5). Viel schöner kann man die flirrende Luft eines heißen Sommertages kaum beschreiben. Mit Sätzen wie diesem empfängt Ewald Arenz den Leser in seinen 250 Seiten langen Roman Alte Sorten. Auf der ersten Seite begegnen wir der etwas wortkargen, bedacht wirkenden Liss, die allein einen großen Hof mit Kartoffelacker, Obstgarten und Weinberg bewirtschaftet. Die sommerliche Idylle, die Arenz auf der ersten Seite heraufbeschwört, ist aber nicht ohne Schatten: “Niemand verfolgte sie”, ist zu lesen und deutet auf eine schwierige Vergangenheit, die im Verlauf der Erzählung entblättert wird.
Sally, die zweite Protagonistin in Alte Sorten, wird dem Leser auf der zweiten Seite vorgestellt. Obwohl aus der dritten Person erzählt, alterniert der Text immer wieder zwischen dem Erleben von Liss und Sally und differenziert die Sprache der beiden Frauen, die mehr als zwanzig Lebensjahre trennen, schön voneinander. Die lyrische Sommerbeschreibung weicht einem gehetzteren und flapsigen Ton. Denn Sally wird verfolgt. Sie ist aus einer Klinik geflohen, in die sie von ihren Eltern untergebracht wurde. Sie ritzt sich. Magersucht steht ebenfalls im Raum. Wie jeder Teenager fühlt sie sich fundamental missverstanden.
Es war alles so verfickt idyllisch, dass sie es kaum aushielt, nicht zu schreien (S. 8).
Es erweist sich als glückliche Fügung, dass Sally während ihrer Flucht aus der Klinik und vor ihren kontrollierenden Eltern Liss über den Weg läuft. Ohne groß Fragen zu stellen, kommt sie auf ihrem Hof unter. Die etwa 45-jährige Frau stellt der 17-jährigen keine Bedingungen, erwartet eigentlich nichts für Kost und Logis. Scheinbar genau das, was Sally braucht, die sich den Wünschen und Erwartungen anderer unterworfen fühlt. Umstandlos packt sie auf dem Hof mit an – eine entschleunigende wie auch sinnstiftende Erfahrung für sie. Über weite Strecken liest sich Alte Sorten entsprechend wie eine Ode an das Landleben, allerdings ohne es zu verklären, und wie ein Plädoyer für die Erlebnispädagogik: Das wütende Teenager-Mädchen findet durch die körperliche Arbeit auf dem Land zu sich. Man kann die Bienen förmlich auf dem Papier summen hören.
Während es anfangs den Anschein hat, als wäre die schnell aus der Haut fahrende, zornige Sally die Person mit der größeren Lebenskrise, zeigt sich, dass Liss die dunklere Vergangenheit hat. Liss kann gut nachfühlen, wie Sally sich fühlt. Sie wuchs auf dem Hof als einzige Tochter eines herrischen Vaters auf, der sie wie die Obstbäume im Garten seinen Vorstellungen entsprechend Formen wollte. Der Hof war wie ein Gefängnis, aus dem sie unbedingt ausbrechen wollte. Und an den Hof knöpfen sich noch weitere Ereignisse, die tiefe Verletzungen in ihr hinterlassen haben – Verletzungen, die weit über eine jugendliche Rebellion gegen die Eltern hinausreichen.
Alte Sorten ist so gesehen ein Roman über Frauen, die aus den Vorstellungen, die andere von ihnen haben, auszubrechen versuchen. Es ist auch ein Roman über die heilende Kraft der Freundschaft und einem Leben nah an der Natur.
Der zweifelsfrei lesenswerte Text ist aber nicht ohne Schwachstellen. So ist Liss die vielfach interessantere Figur. Nicht nur, weil sie anders als Sally ihre Verletzungen nicht auf den zerschnittenen Beinen trägt. Nach und nach verleiht Arenz Liss durch Rückblenden mehr Tiefe und spitzt ihren inneren Konflikt mehr und mehr zu. Sally ist hingegen in erster Linie durch ihre ständigen Wutausbrüche gegenüber anderen Menschen gekennzeichnet. Sie gerät dabei stellenweise so nervig, dass man über die Ruhe von Liss nur staunen kann. Sie flieht vor den Eltern, von denen sie sich unverstanden und bevormundet fühlt – ein Schicksal, das wohl so ziemlich jeder Teenager mit ihr teilt. Doch die exaltierte Dramatik (Selbstverletzung, Wutausbrüche), mit der sich Sally in ihre Lebenskrise wirft, bleibt, zumindest für mich, in ihrer Wucht weniger greifbar und hätte etwas mehr Kontur gebraucht – vor allem weil sie im Hinblick auf Liss’ Schicksal ein ziemlich privilegiertes Leben führt.
Diesen Abstrichen zum Trotz ist Alte Sorten aber ein gelungener Roman, der neben seiner interessanten Geschichte wirklich Lust auf den Sommer und den nächsten Besuch auf dem Land macht.
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Alte Sorten ist bei Dumont erschienen.