Der Jahresanfang ist immer eine gute Zeit, um sich den Büchern zu widmen, die man schon lange aufschlagen wollte. Während also die ersten Titel des Frühjahrprogramms eintrudeln, nahm ich mir den zweiten Teil von Cormac McCarthys Border Trilogy, The Crossing, zur Brust. Und um nicht allzu melancholisch dabei zu werden, sprenkelte ich zur Erheiterung ein paar Erzählungen von Tennessee Williams dazwischen.
Streifzüge durch Brooklyn: A Lucky Man von Jamel Brinkley
Mit A Lucky Man legt der Amerikaner Jamel Brinkley ein elegant erzähltes Debüt vor: Seine neun Stories entführen den Leser in die Leben meist junger Männer, die in Brooklyn und der Brox nach Momenten des Glücks und familiärer Geborgenheit suchen. Der New Yorker erweist sich auf seinem Debüt als ein bemerkenswert souveräner Erzähler, mit dem man in Zukunft sicher weiterhin rechnen darf.Ungeheuer immersiv: Mein loser Faden von Dennis Cooper
Ich erinnere mich gut an das erste Mal, als ich My loose Threat von Dennis Cooper las: Eigentlich wollte ich zu jener Zeit in der Bibliothek an meiner Dissertation arbeiten und nur mal kurz in dem Roman blättern. Doch sein unheimlicher Zauber wirkt schon auf den ersten Seiten, an weglegen nicht zu denken. Der Wiener Luftschacht Verlag hat den ursprünglich 2002 erschienen Text nun erstmalig in deutscher Übersetzung unter dem Titel Mein loser Faden verlegt. Von seiner Sogwirkung hat er nichts verloren.Diese drei Bücher haben dieses Jahr auf ganzer Linie überzeugt
Weihnachten ist ja die Zeit der Entschleunigung. Also genau richtig, um es sich „zwischen den Jahren“ mit einem guten Buch gemütlich zu machen. Im Folgenden habe ich drei vorzügliche Vorschläge für dieses Vorhaben.Schlangen, überall: Florida von Lauren Groff
Florida, Amerikas Sunshine State, ist ein prähistorischer Sumpf voll bissiger Amphibien, der im Prozess ist, trocken gelegt und domestiziert zu werden. Also ein perfektes Setting für eine unbestimmte Angst, die sich unterschwellig durch viele der elf Geschichten in Florida, dem zweiten Erzählband der in Gainesville lebenden Autorin Lauren Groff, schlängelt wie die zahllosen Kriechtiere, die diese hervorragenden Erzählungen bevölkern.Partikelgestöber: Am Bahndamm von Pierre Chiquet
Die Unmöglichkeit, sich selbst zu kennen: Ein etwa fünfzigjähriger Mann wird eines Abends von Unbekannten niedergeschlagen und findet sich sprach- und bewegungslos in einem Krankenhausbett wieder. Die Ärzte bescheinigen ihm: Alles ist in Ordnung. Physische Probleme sind es also nicht, die ihn in Schockstarre haben fallen lassen. Es ist eine Erinnerung an die Jugend, die der Überfall in ihm aufbricht und eine Identitätskrise auslöst: Eine große Verunsicherung ergreift Paul: “Ich wurde nicht, was ich hätte sein können” (50).Weihnachten im Panzer: Aurora von Sascha Reh
Sascha Reh legt mit Aurora ein schwungvolles Update der Weihnachtsgeschichte vor: Der Reporter Ole reist von Kopenhagen nach Bornholm mit dem Auftrag, über einen starken Schneesturm zu berichten. Es ist ein eher bescheidener Auftrag, der signalisiert, dass seine Karriere aufs Abstellgleis zu geraten droht. Doch dann findet er sich unverhofft in einem Abenteuer wieder: Denn plötzlich taucht Eric in einem Panzer auf, mit dem er auf dem Weg zu einer schwangeren Frau ist. Als sie unterwegs die Hebamme Tamara einsammeln, entwickelt sich sein langweiliger Auftrag zu einem rasanten Kammerspiel, das die Weihnachtsgeschichte im Kontext aktueller Debatten um Geschlecht neu erzählt.Verortung: Flüchtiges Zuhause von Rolf Hermann
Die Kindheit ist gefangen in der Zeit. Wenn sie vergeht, nimmt sie sie mit und es bleiben Erinnerungen, in die der Geist immer wieder hinaubzutauchen versucht. Der Schweizer Rolf Hermann hat diese Erinnerungen in eine bildhafte, warme und poetische Sprache gekleidet, die das innere Auge des Lesers in das von Gipfeln gesäumte Tal seiner Kindheits- und Jugendjahre führt.Überhitzung: Kampfsterne von Alexa Hennig von Lange
Was das Lesen angeht, war Alexa Hennig von Lange so etwas wie meine erste Liebe. Ihr Debütroman Relax (1997) war einige Wochen das Gespräch auf dem Pausenhof, weil er die gängigen Vorstellungen von Literatur, die man als Jugendlicher durch den Deutschunterricht so hat, sprengte: Ein aufregendes Wochenende in Berlins Technoszene, erzählt in rasend schneller, rotziger Sprache, endlos unterhaltsam, witzig und verblüffend. Jetzt, beinah zwanzig Jahre später, ein Wiedersehen: Im August erschien Hennig von Langes neuer Roman Kampfsterne bei Dumont.Alles ist verrutscht: Warten auf Schnee von Karoline Menge
Erst verschwindet die Mutter, dann das ganze Dorf: In Karoline Menges Debütroman Warten auf Schnee sind zwei Schwestern mit schwindenden Vorräten auf sich allein gestellt. Beseelt von einer entrückten, schwermütigen Atmosphäre, mengt die Debütantin ihrer Erzählung Märchenelemente bei und formt ein literarisches Rätsel, das schwer zu knacken ist.