Curtis Dawkins hatte einen Abschluss in Literarischem Schreiben und einige Erzählungen in Magazinen veröffentlicht, als er im Rausch einen Mann erschoss und dafür lebenslänglich ohne Aussicht auf Bewährung ins Gefängnis wanderte. Gut 14 Jahre nach der Tat erscheint sein erster Erzählband Alle meine Freunde haben wen umgebracht und bietet einen faszinierenden Einblick in das Leben von Männern, die ihr Recht auf Freiheit verwirkt haben.
Obwohl immer wieder andere Männer im Zentrum dieser 14 Geschichten stehen, bildet der Band in seiner Gesamtheit eine Reise durch das amerikanische Strafvollzugssystem. Die ersten Texte spielen im County Jail, eine Erzählung beschreibt den Übergang zum State Prison und den Schlusspunkt setzt ein Text, “Leche Quemada”, der das Leben “danach” thematisiert. Es wird wohl kein Zufall sein, dass “Leche Quemada” einer der wenigen Texte ist, der aus der dritten Person erzählt wird. Schließlich gehört die Haftentlassung nicht zu den Erfahrungen, die Curtis Dawkins gemacht hat oder wohl je machen wird.
Ob sich die restlichen Texte aus den persönlichen Erfahrungen des Autors speisen, sei dahingestellt. Denn man sollte nicht den Fehler machen, Alle meine Freunde haben wen umgebracht als das Produkt eines schreibenden Knackis zu sehen. Es ist das Werk eines talentierten Autors, der aufgrund eines abscheulichen Fehlers zum Knacki wurde. Es sind also keine Texte, in denen sich jemand seine Sünden von der Seele schreibt, auch wenn der Autor die triste Lebenssituation seiner Erzähler und Protagonisten teilt.
Aber was gibt es eigentlich zu erzählen, wenn man Jahre weggesperrt ist und das Leben in erster Linie durch Stasis und staatliche Kontrolle und der damit einhergehenden Routinen wie Essensausgabe und Hofgang geprägt ist? Erstaunlich viel: Denn Alle meine Freunde haben wen umgebracht hält sich nicht mit skandalisierenden Verbrechensgeschichten auf, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Auch umschiffen die Texte weitestgehend die gängigen Knastklischees. Stattdessen serviert Curtis Dawkins kurze Momentaufnahmen aus dem Gefängnisalltag, bei denen er die Sehnsucht, Verlorenheit, Abgeklärt oder Resignation seiner Protagonisten einfängt. So macht in „Eine menschliche Nummer“ der Erzähler wahllos R-Gespräche und führt Small Talk mit den Personen, meistens Rentner, die die Anrufe annehmen. Doch der Kontakt zu Menschen „draußen“ ist nicht, was dem Erzähler am wichtigsten ist:
Die Leute reden gerne – deshalb gehen sie ran. Ich versuche, an ihrer Stimme vorbeizuhören, in ihr Zuhause, in die Welt um sie herum (28).
Viele der Geschichten wirken anfangs etwas mäandernd, fokussieren sich aber nach und nach, um oftmals pointiert zum Schluss zu kommen – nur wirken die Pointen hier wie ein stumpfer Schlag in die Magengrube und nicht wie ein zärtliches Kitzeln des Zwerchfells. Das beste Beispiel dafür ist “Schwäne”, mit 28 Seiten auch die längste Erzählung der Sammlung. Hier besorgt sich der zu lebenslanger Haft verurteilte Erzähler zum ersten Mal seit seiner Inhaftierung vor sieben Jahren etwas Gras. Im Fernsehen – das in diesen Erzählungen allgegenwärtig ist – sieht er einen Bericht, in dem Schwäne aus Naturschutzgründen getötet werden. Der Bericht triggert eine Jugenderinnerung, die das Kernstück des Textes bildet und den Leser mit zu einem Verlust der Unschuld führt, der sinnbildlich für die Misere des Erzählers steht. Zusammen mit seinem besten Freund besuchte er während der High School in der Pause regelmäßig den querschnittgelähmten Cash, der für sich allein ohne Regeln in den Tag hinein lebt und Gras verkauft. Eines Tages beschließt Cash, Schwäne zu züchten, die plötzlich aber an einer Seuche zu Grunde gehen und vom Erzähler notgeschlachtet werden. Ein dunkler Schatten legt sich um eine Jugend, die vielleicht auch nie sorgenfrei war. Das scheinbar unbekümmerte Leben von Cash ist kein Ausweg, genauso wenig wie das Gras, das der Erzähler der Klassenbesten zur High School Abschlussfeier anbietet. Sie lehnt ab: “Sie erklärte mir, sie brauche keine Drogen als Ausweg” (128).
Viele der Erzählungen folgen diesem Aufbau. Oft ruft eine Beobachtung im Knast eine Erinnerung in den Erzählern hervor. Diese führen aber selten zur Tat, die sie ins Gefängnis brachte, sondern zu Momenten, in denen sich ihr Schicksal festzuschreiben beginnt. Curtis Dawkins tut das nicht, um Erklärungen oder Entschuldigungen zu finden. Vielmehr spürt er der Menschlichkeit seiner Figuren nach, die nach Wegen suchen, mit der harten Realität ihrer oft ausweglosen, selbst verschuldeten Situation zurechtzukommen. Daraus sind endlos faszinierende Geschichten entstanden, die trotz des grauen, harschen Settings nicht ohne Humor und Herz sind und von manchmal skurrilen, aber immer stimmig gezeichneten Charakteren bevölkert werden.
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Die Originalausgabe von Alle meine Freunde haben wen umgebracht erschien 2017 unter dem Titel The Graybar Hotel bei Scribner. Die deutsche Erstausgabe erschien im März bei Suhrkamp Taschenbuch.