Seitdem hier der große Trubel war, ist es still geworden, so als hätten alle die gegangen sind, alle Geräusche mit sich genommen und die Wohnung hinter sich schalldicht verschlossen. Ich lehne am Türrahmen meines Zimmers und schaue in den Flur der Wohnung. Würde ich in die Hände klatschen, könnte ich den Hall hören. Niemand sonst. Die Anderen lassen sich kaum noch blicken und wenn, dann nur kurz um etwas zu holen und betreten zu schauen.Wie schnell sich Dinge ändern. Und wie dabei irgendwie alles gleich bleibt, das alles kommt mir doch viel zu bekannt vor: Immmernoch Studentin, wieder single und auf Mitbewohnersuche war ich vor drei Jahren auch schon. Jetzt also wieder. Heute ist das erste Casting.
In der Anzeige stand:
Drei Zimmer in 4-er WG zu vergeben, sofort bezugsfertig. Die Zimmer sind 12 bis 18 m² groß, die Wohnung befindet sich in einem Hinterhaus auf der Louisenstraße in der Neustadt. Einkaufsmöglichkeiten, Bars und Anbindung an den ÖPNV vorhanden, 20 min zur Uni.
Ich hatte weder die Lust, noch die Energie mehr zu schreiben. Mir wäre auch nicht viel mehr eingefallen, die WG-Atmosphäre lässt sich schwer beschreiben, wenn man die letzte Verbliebene ist. Die Wohnung wird, was die Leute daraus machen, weil manchmal muss man den Dingen einfach ihren Lauf lassen. Aber vielleicht war das auch das Problem, der Grund warum ich jetzt allein hier stehe. Die Zimmer werden jedenfalls trotz des knappen Texts schnell vergeben sein. Achtunddreißig Interessenten in drei Tagen. Ich habe nur mit den ersten zwanzig Termine vereinbart, das wird schon reichen, denke ich. Die Wohnung ist super, in bester Lage und erschwinglich, wer würde nicht hier wohnen wollen, außer vielleicht die Menschen, die die letzten drei Jahre hier lebten und wissen, was hier so passiert ist. Manche Sachen behält man eben lieber für sich. Ich bin mir da nämlich selbst nicht so sicher.
Warten bis es weitergeht. Das ist alles was ich getan habe, die Zeit muss man sich nehmen. Ein paar Tage bin ich nach Berlin verschwunden, das war auch schon alles. Seit einer Woche lebe ich allein auf zweiundneunzig Quadratmetern und unterhalte mich mit den Geistern in meinem Kopf. Vieles von dem, was passiert ist, ergibt noch immer keinen Sinn. Vielleicht muss auch immer erst eine neue Geschichte beginnen, bis die alte als abgeschlossen angesehen werden kann. Jetzt stecke ich noch zu sehr drin oder es ist als wäre das letzte Wort schon gelesen, das Auge ist über den letzten Punkt geflogen und liegt jetzt auf der letzten, weißen Seite, dahinter der Buchdeckel. Man kann immer nur zurück blättern.
Eines der traurigsten Geräusche ist, wenn man sich selbst Schnaufen hört. Mit meinem Arm stoße ich mich vom Türrahmen. Neben meinem Zimmer ist das von Philipp. Beide Zimmer sind am Ende des Flurs, seines ist größer als meins und hat einen Balkon, das schönste Zimmer der Wohnung. Im Sommer saß er auf dem Balkongeländer, den Rücken an die Wand gelehnt, das linke Bein baumelte über der Tiefe und er rauchte und schaute in den Himmel. Dass er hier nicht glücklich wurde, kann nichts mit dem Zimmer zu tun haben. Vielleicht war er ja auch glücklich und alles ist nur ein Missverständnis, ein Rätsel ohne Lösung, wer weiß das schon?
Ich öffne die Flügeltür zu seinem Zimmer, gehe aber nicht hindurch und lehne mich wieder gegen den Türrahmen. Manchmal ist es ist zu anstrengend, allein zu stehen und irgendwie habe ich noch Hemmungen, einfach so in die Zimmer der anderen zu gehen, als würde ich die Privatsphäre von irgendwem verletzen, auch wenn es hier nichts mehr zu verletzen gibt. Im Laufe der Woche werden die letzten Sachen abgeholt, wie mir ein an von Frauenhand beschriebenes, an die Tür geklebtes Post-it verrät. Philipps krakelige Schrift konnte ich nie lesen.
In seinem Zimmer ist noch der große Schreibtisch mit Glasplatte auf dem sonst immer sein Laptop stand, auf dem jetzt nichts mehr liegt. Das Bett steht an der Wand, die wir uns teilten, was ich immer seltsam fand, weil man eigentlich keinen halben Meter voneinander entfernt schläft, man könnte genauso gut im selben Bett liegen, zumindest was die Entfernung betrifft. Wenn ich heute in meinem Bett schlafe und die kalte Wand berühre, bekomme ich Gänsehaut. Manchmal habe ich mich gefragt, ob es ihn vielleicht irgendwie scharf macht, so dicht neben mir zu schlafen, ist doch eine komische Vorstellung: Da liegt der Mitbewohner ein paar Zentimeter neben einem und holt sich darauf grad einen runter. Aber vielleicht ist das auch einfach nur mein Kopf.
Das beste an Philipp sind die Bilder. Er hat eigentlich immer an einem Bild gearbeitet und immer mit Kohle, weil es etwas ursprüngliches hat, wie er mal bei einer Flasche Wein erklärte. Mit Blut wollte er auch experimentieren, das wäre als würde man mit dem Leben selbst malen. Das fand ich etwas gruselig.
Wenn er ein Bild fertiggestellt hatte, hängte er es sich solange ins Zimmer, bis das nächste gemalt war. Das alte Bild wurde dann im Flur aufgehangen, wenn die WG sich darauf einigen konnte. Zuletzt hat er Portraits von uns gemalt.Das von mir habe ich über meinem Schreibtisch aufgehängt. Im Gegensatz zu den anderen drei Portraits wirkt es verschwommen, weil meine Gegenwart so dezent ist, hat er gesagt und ich wusste nicht, ob ich beleidigt sein sollte, weil mir nicht klar war, was er meinte. Ich habe ihn darauf angesprochen und er sagte, er meint das auf angenehme Weise und ich dachte na dann ist ja gut. Zwischenzeitlich hatte ich das Bild schon wieder von der Wand genommen. Obwohl es etwas verschwommen wirkt, so als würde man mich durch leichten Nebel betrachten, sind alle Details meines Gesichts erstaunlich gut reproduziert, der kleine Höcker auf meiner Nase, den er meinetwegen ja gerne hätte weglassen können und die drei Pockennarben über meinem linken Auge – alles da. Selbst die Ohrringe, die ich am liebsten trage, hat er auf den letzten Strich genau hinbekommen. Das hat auch etwas beängstigendes, irgendwie, weil er ja schwor immer und alles aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Beunruhigend ist auch, dass mit Kohle dick an der Wand geschrieben steht An der Zukunft zerbricht die Gegenwart. Ich frage mich, wer die Wand weißen soll, ich sicher nicht. Es ist gar nicht so lange her, als er das schrieb. Er muss es getan haben, nachdem wir betrunken in der Küche saßen und ich ihn erinnerte, dass er die ganze Sauerei, die wir veranstaltet hatten, laut Putzplan wieder sauber machen müsse. „Der Gedanke an Morgen versaut mir grad alles“, lallte er dann, nahm mein Gesicht in seine Hände, gab mir einen feuchten Kuss auf die Stirn und wankte in sein Zimmer. Er hatte so ein Talent dafür, einen etwas perplex zurückzulassen.
Das deprimiert nur, ich stoße mich vom Rahmen ab und drehe mich in den Flur, an der Wand sehe ich eines seiner Bilder. Es ist eine Szene aus einer unserer jährlichen Halloweenparties: verschiedene Monster, die meisten Zombies, stehen eng in unserem Flur gedrängt. Da Philipp nur schwarz-weiß malte, sieht es aus wie einer Goyas Albträume. Philipp mochte das Bild nicht, es hing nie in seinem Zimmer. Er hatte es von einem Foto abgemalt und so geht das nicht, sagte er. Man müsse mit dem inneren Auge malen.
Es sind nicht immer die besten oder schlechtesten Momente, die man erinnert. Die Seltsamsten vielleicht, schwer zu sagen. Von der rechten Flurseite gehen Küche und Badezimmer ab, gegenüberliegend die Zimmer von Carsten und Miri. Ich lehne mich an den Türrahmen der Küche und blicke auf die Wand zwischen ihren Türen. Auf dem Bild ist eine Küchenszene zu sehen. Miri, Carsten und ich sitzen am Küchentisch, ich rauche eine Zigarette und wie bei dem Portrait von mir bin ich nur etwas verschwommen auszumachen. Miri lacht mit offenem Mund, Carsten sieht ihr dabei zu und hält ein Glas Wein in der Hand. Es ist kein bestimmter Moment, den Philipp da festgehalten hat. Wenn am Wochenende nichts ging oder wir uns alle nach der Nacht zufällig in der Küche trafen, haben wir oft am Tisch gesessen, noch etwas getrunken und Was würdest du tun, wenn… gespielt. Man konnte sich dann vorstellen, was man machen würde, wenn man im Lotto gewinnt, auf einer einsamen Insel strandet oder aus Versehen mit dem Fahrrad über eine Katze fährt. Oder was man denn tut, wenn man weiß, dass man nur noch eine Stunde hat. Carsten sagte Sex weil Petit Mort und so, Miri wollte sich der Völlerei hingeben, ich einfach alle meine Freunde einladen. An Philipps Antwort kann ich mich nicht erinnern, vielleicht war er auch nicht da. Und wenn ich so drüber nachdenke, haben wir alle nur geantwortet was wir ohnehin die ganze Zeit gemacht haben, mit dem Unterschied vielleicht, dass Miri später nicht hätte kotzen gehen müssen. Trotzdem musste ich am nächsten Tag den Abwasch machen, weil Miri und Carsten beschlossen hatten, dass meine Antwort die langweiligste war. So ist das nun mal.
Eine andere Erinnerung: Schlaflosigkeit und Geräusche in der Wohnung. Ich war auf dem Weg von meinem Zimmer zum Bad, um mir Ohrenstöpsel zu suchen, als ich Philipp im Türrahmen der Küche fand und er die zu dieser Zeit noch nackte Wand zwischen Carstens und Miris Zimmertüren anstarrte. Es muss ein Wochenende gewesen sein, weil Carsten unter der Woche eigentlich nie Frauen mit Nachhause brachte. Jedenfalls ging es in beiden Zimmern grade heftig zur Sache und als Philipp und ich uns im dunklen Flur begegneten, wussten wir uns nur verlegen anzugrinsen. Wir sagten dann beide fast synchron „ich kann nicht schlafen,“ dann haben wir uns auf den Flurboden gesetzt und obwohl wir laut WG-Konsens ausschließlich in der Küche bei geöffnetem Fenster rauchen durften, hat Philipp eine Tüte gedreht. Das fand ich etwas eklig weil er ein Pflaster am Zeigefinger trug und seine Hände vom Malen ganz schwarz waren. Der Sauberste war er ja nie, er musste öfter Strafe zahlen, weil er mit dem Putzplan nicht hinterher kam.
Als wir dem Stöhnkonzert lauschten, sagte er, dass er, dafür das er fünfundzwanzig ist, viel zu wenig Sex hat und mir ging es zu jener Zeit auch so. Mit Jens lief es zu dieser Zeit schon nicht mehr. Wenn man breit ist und vielleicht noch was getrunken hat, erzählt man manchmal seinen Mitbewohnern Dinge, die man sonst nur seiner Besten erzählt. Voll intim. So wie Carsten, der mir nachts mit Pfefferminzschnappsatem gern Dinge flüsterte, die ich nicht hören wollte.
Das Portrait das Philipp von Carsten malte zeigt ihn in Nahaufnahme, das glattrasierte Gesicht, das kurze braune Haar, die nach oben gezogene Augenbraue. Das war Carstens Standardreaktion auf Fragen und Aussagen, die ihn überforderten. Er hat Philipp oft so angeschaut und als dann das mit Miri passierte, war es für mich eigentlich auch nur noch eine Frage der Zeit, bis es zwischen beiden mal knallen würde. Aber es kommt ja immer anders.
Die Eroberung, mit der Carsten zu Gange war – bestimmt wieder hängen gebliebene Partytouristin aus den Randbezirken, Carsten kennt da nichts – stöhnte ziemlich laut, und ich wusste gar nicht, dass es sowas gibt, aber mit sächsischem Akzent, sodass man Miris zartes, aber hochfrequentes und Wände durchdringendes Fiepen kaum hörte. Wenn man drei Jahre zusammenwohnt, kennt man sich ziemlich gut. In dem Moment war ich mir ziemlich sicher, dass Miri noch fünf Minuten brauchen würde und ich wollte mit Philipp darauf um den Abwasch am nächsten Tag wetten. Ich sah auf die Uhr, um meine Schätzung überprüfen zu können und sah, dass sie stehen geblieben war. Philipp sagte, er hat noch irgendwo eine Batterie aber ich sagte, dass ich keine Batterien brauche, weil es die Automatikuhr meines Vaters war. Die ist klasse, weil sie immer ganz lässig um mein Handgelenk hängt und sich anhand der Bewegungen von selbst aufzieht. Dann grinste Philipp etwas debil und sagte, dass zwischen mir und Jens wohl wirklich nichts mehr zu laufen scheint. Das war mir unangenehm und ich fragte mich, ob sich die ganze WG schon darüber unterhält. Jedenfalls, er würde sich zur Verfügung stellen, wenn ich mal meine Uhr aufziehen wollen würde, sagte er mit kleinen roten Augen. Ich machte die entsprechende Bewegung vor seinen Augen, sagte stells dir einfach vor wie sonst auch und ging ins Bett. Vielleicht hätte ich sitzen bleiben sollen. Vielleicht wäre vieles anders gekommen, wenn ich mit ihm auf Miris Orgasmus gewartet hätte. Vielleicht war das alles aber auch egal. Manche Dinge würde man gern wissen, unabhängig davon, ob es etwas ändern würde.
Carstens Zimmer sieht noch ziemlich bewohnt aus. Er ist der Einzige, der diesen Monat ohnehin ausgezogen wäre. Er geht ein Jahr nach Dänemark, da gibt’s blonde Frauen. Er wird im Laufe der Woche das Zimmer ausräumen. Es ist nicht lange her, da waren wir alle vier Zuhause und es war ein Wochentag und ich war bis spät in der Nacht mit einer Seminararbeit beschäftigt. Auf dem Weg ins Badezimmer stolperte ich im Flur über Philipps Beine. Er saß wo wir ein paar Wochen zuvor zusammen geraucht hatten. Nur diesmal stand Carstens Zimmer offen und aus Miris Zimmer hörte man sie fiepen. Ich fiel auf den Boden. Philipp stand auf, entschuldigte sich, half mir aber nicht auf, sondern verschwand in seinem Zimmer.
Es klingelt an der Tür. Das Casting beginnt. Ich schlürfe zur Tür und als ich sie öffne, steht da ein lächelnder Matthias vor mir. Das ist schon mal sympathisch. Ich sage „Hallo“, er fragt „Jasmin?“, und ich nicke mit dem Kopf. Matthias, das hat er mir in der Mail geschrieben, ist zweiundzwanzig, studiert Politikwissenschaft und wohnte bisher im Wohnheim in Uninähe, wo es ihm aber zu langweilig wurde. Sein Budget ist aber relativ gering, weshalb er sich für das kleinste der Zimmer interessiert. Das ist Miris Zimmer, das Zimmer, das gleich das erste ist, wenn man die Wohnung betritt. Miri ist zurzeit bei ihren Eltern, ich soll ihr schreiben, wenn ich einen Nachmieter gefunden habe. Erst dann kommt sie ihren restlichen Kram holen. Die Möbel würde sie gern hier lassen.
Ich öffne die Tür zu ihrem Zimmer, nur dieses Mal kann ich nicht am Rahmen angelehnt stehen bleiben. Über der Tür ist das Hochbett, unter dem Hochbett eine Couch und ihr Kleiderschrank. Die Wände sind hier sehr hoch, vom Hochbett zum Boden sind es zweieinhalb Meter. Das hat Miri in einer betrunkenen Nacht eine gebrochene Kniescheibe gekostet. Wenn man das Zimmer betritt, fällt der Blick auf Philipps Version von ihr. „Ist das meine Vormieterin?“, fragt Matthias, der ziemlich dicht neben mir steht und dabei sehr gut riecht. Vorsichtshalber mache ich mir mental eine Notiz, dass er vielleicht nicht hier einziehen sollte, er aber anderweitig Verwendung finden könnte. Zusammen gehen wir durch das Zimmer, in dem sonst noch ein Sitzsack, ein Bücherregal und ein Schreibtisch stehen. Neben dem Fenster, vor dem Bild, bleiben wir stehen. Es ist das vorletzte Bild, das Philipp malte. Zuletzt malte er sich selbst, auf dem Geländer des Balkons sitzend, siebenmeterfünfzig über dem Boden, was nicht tödlich sein muss, wie man mir sagte…
Eine feine Strähne hängt Miri im Gesicht, das Haar zu einem Zopf zusammengebunden, wie sie es Zuhause eigentlich immer trug. „Ist das da ein Knutschfleck?“, fragt Matthias und ich fasse mir unweigerlich an den Hals und denke das kann ja nicht sein, als mir auffällt, dass sein Blick immer noch auf das Portrait gerichtet ist. Und tatsächlich, in die schwarze Zeichnung wurde etwas Farbe gerieben, rötlich braun, ein kleiner Fleck, direkt an Miris Hals. Und plötzlich sammelt sich etwas Schweiß auf meiner Stirn und ich bin erstmal etwas perplex. Ich gehe ganz nah an das Bild, so dass das kalte Glas des Rahmens beschlägt und es kann nicht anders sein: Bevor alles schwarz wurde, hat er etwas Farbe benutzt. Ich würde den Rahmen jetzt gerne aufbrechen, um zu prüfen, ob da noch mehr zu sehen ist, ein Hinweis vielleicht. Aber es klopft auf meiner Schulter und Matthias fragt, ob alles in Ordnung ist und er sich die Küche anschauen kann und ich schaue auf die Uhr und sehe, dass sie stehen geblieben ist. „Meine Uhr ist stehen geblieben“, sage ich und er antwortet, dass er leider keine Batterien hat. „Die brauchen wir nicht.“