Julia Rothenburgs zweiter Roman hell/dunkel ist eine ziemlich düstere Angelegenheit: Zwei sich entfremdete Geschwister müssen damit fertig werden, dass ihre Mutter an Krebs stirbt und kommen sich dabei zu nah. Viel zu nah. Es ist ein unangenehm zu lesender Text.
Valerie macht gerade Abitur. Doch das Leben stellt sie vor eine weitaus schwierigere Prüfung: Als sie eines Tages von der Schule nach Hause kommt, ist die Mutter im Krankenhaus. Dafür findet sie ihren Bruder Robert wieder. Der ist vor einiger Zeit aus Berlin weggezogen und, so empfindet sie es, hat sie mit der gesundheitlich angeschlagenen Mutter im Stich gelassen. Jetzt ist der Krebs zurück und dieses Mal will Robert für seine Schwester da sein.
Die beiden Geschwister umkreisen sich misstrauisch. Vor allem die dünnhäutige Valerie wird wieder und wieder zur Dampflock, die die Kommunikation zwischen beiden erschwert. Ohnehin geraten die Unterhaltungen zwischen den Geschwistern sowie mit der Mutter immer wieder ins Stocken. Gefühle überlagern sich, niemand weiß, wohin damit.
Es ist eine deprimierende Situation für beide: Robert, der in seiner Jugend von der rechten Bahn abgekommen war – “so cool war, dass es weh tat” (73) – plagt sich mit Schuldgefühlen gegenüber der Familie und knabbert an den Fehlschlägen seines Lebens. Seine Ausbildung hat er abgebrochen, in Marburg, wo er zuletzt lebte, hat er seine (Ex-)Freundin Sandra zurückgelassen und geht deren Kontaktversuchen aus dem Weg. Von den Vätern der Halbgeschwister ist auch keine Hilfe zu erwarten. Roberts Vater ist ein Italiener, der sich als Akkordeonspieler durchs Leben schlägt und sich als unzuverlässiger Schwätzer zeigt. Was mit Valeries Vater geschehen ist, bleibt rätselhaft.
Und so verbringen die beiden Heranwachsenden diese schwierige Zeit auf sich selbst zurückgeworfen. Gefühle von Wut, Traurigkeit und Hilflosigkeit werden dabei zu einem unheilvollen Gebräu. Julia Rothenburg manövriert ihre Protagonisten schließlich in einen Tabubruch. Die Geschwister kommen sich zu nah:
Er kann ihr Haar riechen, er kann ihre Haut riechen. Sie riecht ganz anders als Sandra. Darf er sowas überhaupt bemerken? (69)
Harter Tobak: Während die Mutter dem Krebstod entgegen siecht, begehen ihre Kinder Inzucht. Das macht die Situation der beiden natürlich auch nicht einfacher. Auf textlicher Ebene gibt diese Konstellation beziehungsweise die Frage, ob sie sich daraus wieder unbeschadet lösen können, der Erzählung Spannung. Ob sie auf inhaltlicher Ebene wirklich schlüssig durcherzählt ist – daran bleiben allerdings Zweifel. Die Tragödien des Lebens schweißen Menschen schon immer zusammen. Aber muss es wirklich so nah sein? Der Inzucht als Bewältigungsstrategie gibt Valerie und Robert etwas, das sie vom unausweichlichen Verlust der Mutter ablenkt.
Doch das Ganze hat einen schalen Beigeschmack. Nicht nur, weil sich der Text in Anbetracht der Thematik unangenehm liest. Sondern auch, weil nicht so richtig klar wird, was die Autorin eigentlich zeigen will. Dass der Tod eines Elternteils einen Menschen aus der Bahn wirft, hätte man schließlich auch anders erzählen können. Das ist schade: hell/dunkel ist durchaus gut geschrieben und bietet mit Robert eine komplexe Figur, über die man als Leser gern mehr erfahren hätte. Die Konzentration auf die Entfremdung dieser Familie hätte diesen Roman vielleicht besser gestanden – vieles bleibt ungenutzt im Dunkeln. Auch bleibt Valerie im Vergleich zu ihrem Bruder als unausgeglichene, zu Wutausbrüchen neigende junge Frau etwas blass. Hier wäre mehr möglich gewesen.
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hell/dunkel ist in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen.