Corinna T. Sievers hat mit Vor der Flut einen sprachlich interessanten und überaus offenen Roman über eine 51-jährige Nymphomanin geschrieben, die ihrem unbändigen Drang selbst während der Arbeit (sie ist Zahnärztin) nicht standhalten kann und auch mal einen Patienten im Behandlungsstuhl vernascht. So heiß es auch hergehen mag, herrscht doch klirrende Kälte im Leben der Frau. Keine Eroberung kann die fundamentale Leere in ihr füllen.
Vor der Flut ist ein Roman über Sex und Geschlechterklischees, der sich selten erotisch liest. Dafür ist die Sprache, in der die Ich-Erzählerin einige Tage aus ihrem Leben wiedergibt, zu kühl. Judiths Profession als Zahnärztin scheint sich auf ihre Sprache abzufärben, die mich in ihrem Minimalismus – beispielsweise dem sehr sparsamen Einsatz von Satzzeichen – an amerikanische Autoren in der Tradition Hemingways wie Cormac McCarthy erinnert, ohne jedoch deren poetische Kraft zu entfalten. Die oberflächenverhaftete Hauptsatzprosa von Less Than Zero-Era Bret Easton Ellis ist vielleicht ein besserer Referenzpunkt (auch hinsichtlich des obere Mittelschicht Milieus). Die Sprache, die ja den Zugang zur Welt herstellt, hat oft etwas von einer Anamnese. Das macht den Roman, zumindest in sprachlicher Hinsicht im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Veröffentlichungen, durchaus interessant, wenngleich die Autorin den kühnen und kühlen Stil, mit dem sie den Leser am Anfang etwas überrumpelt, nicht gänzlich bis zum Ende konsistent hält. Das kann aber auch an einer zunehmenden Introspektion der Erzählerin liegen, deren Gedanken sich ständig um die eigene Lust und die Analyse derer drehen.
Judith lebt auf einer kleinen Nordseeinsel und ist seit 25 Jahren mit dem älteren und wohlhabenden Freudianer Hovard verheiratet. Es ist eine eher kumpelhafte, zuweilen analytisch-therapeutische Beziehung. Auch die Geschlechterrollen sind unüblich verteilt: Hovard, inzwischen nicht mehr berufstätig und für das Haus verantwortlich, hat kein Interesse mehr an Sex, stellte nach drei Monaten Beziehung den Beischlaf sogar komplett ein – etwas, das in Judith eine große Verletzung darzustellen scheint. Es ist eine Ehe mit hohem Frustrationspotenzial: Frigider Mann und Erotomanin. In dieser Konstellation wird Judith fast zu einer Art Studienobjekt ihres Mannes. Sie darf ihrem unbändigen Trieb nachgehen – über 500 Männer sollen es sein – und begibt sich nach ihren Abenteuern regelmäßig zu ihm auf die Couch.
Der Zugang zu ihrer Sexualität wie auch das Berufs- und Eheleben hat etwas klinisch kaltes und ist voller Widersprüche. Judith ist beispielsweise sehr auf Hygiene bedacht, ihre Praxis muss stets keimfrei sein. Doch beim Geschlechtsakt – die Kühle dieses Begriff trifft es am besten – verzichtet sie auf jede Sicherheitsmaßnahme, Safer Sex ist ein Fremdwort. Dafür nutzt sie die Privilegien als Ärztin aus und versorgt sich nach jeder Eskalation vorsorglich mit Antibiotika. Ähnlich verhält es sich mit der Beziehung zu ihrem Mann: Einerseits ist sie ganz dankbar für dessen (eher väterliche) Fürsorge, fühlt sich durch dessen sexuelle Abstinenz jedoch gefangen und bevormundet. Die Frage, die bis zum Ende des Romans unbeantwortet bleibt, ist warum diese (vermeintlich) emanzipierte Frau, die gewissermaßen “ihren Mann steht”, überhaupt bei ihm bleibt? Schenkt ihr die Abstinenz des Mannes nicht die Freiheit, zu tun und lassen, was sie will? Oder ist es am Ende der Wohlstand Hovards, den sie nicht entbehren will? Auch wenn das Thema Sexualität bzw. Erotomanie vordergründig im Zentrum des Romans steht, ist das Milieu, in dem Judith lebt, ein nicht zu unterschätzender Aspekt dieses Textes: All die Ausschweifungen – sexuell und materiell – muss man sich schließlich auch erstmal leisten können.
Die Kälte spiegelt sich auch in den äußeren Umständen: Vor ihrem Haus treibt ein riesiger Eisberg, der das Heim bei der nächsten Springflut zu zerstören droht. Dieses Bedrohungsszenario schwebt über der Handlung des Romans und kommentiert auf metaphorischer Ebene natürlich auch den Zustand der Ehe – da ist etwas Kaltes, das droht, alles unter sich zu begraben.
Vor der Flut ist ein flott zu lesender Roman, der sicherlich auch provokant sein will. So freizügig hat eine Autorin die uferlose Sexualität einer 51-jährigen Frau wahrscheinlich noch nicht zu Papier gebracht. Gewiss wird sich der ein oder andere, eine Erotikgeschichte erwartende Leser etwas vor den Kopf gestoßen fühlen. Denn Anheizen will Vor der Flut wohl eher nicht. Vielmehr will der Roman mit Konventionen brechen. Daraus aber eine von Anfang bis Ende wirklich einnehmende Geschichte zu spinnen, verpasst Corinna T. Sievers leider. Dem Text geht mit fortlaufender Dauer etwas die Puste aus, die Charaktere bleiben blass und hinsichtlich der sexuellen Ausschweifungen bleibt ein gewisser Gewöhnungseffekt nicht aus. So gesehen bringt der Text die Erkenntnis, dass Sexualität allein noch keinen interessanten (oder sympathischen) Menschen macht. Auch bleibt unklar, was die eher männlich kodierte, raubtierhafte Sexualität der Protagonistin im Bezug auf die Umkehrung von Rollenklischees bedeuten soll. Als emanzipatorischer Akt taugt sie wenig, wenn sie die Protagonisten nicht erfüllt und sie mehr als einmal zu erfrieren droht.
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Vor der Flut ist bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen.