“Niemand hatte eine Ahnung davon, wie schwer es war, sich zu beherrschen” (S. 69): Clemens J. Setz präsentiert mit Der Trost runder Dinge einen mit Ideen überschäumenden Erzählband. Unerschrocken lotet der Österreicher in dem mit zwanzig Geschichten auf 315 Seiten etwas überbordenden Band menschliche Untiefen aus. Der Trost runder Dinge ist mal verstörend, stets fantasievoll und gelegentlich sperrig, aber nie langweilig.
Die hier vereinten Erzählungen von einer bis fünfzig Seiten Länge schaffen es immer wieder, den Leser zu überraschen und zu überrumpeln. Weder thematisch noch formal scheut Setz Risiken. Die erste Erzählung “Südliches Lazarettfeld” bietet ein Paradebeispiel dafür, wie der Autor im Leser Erwartungen schürt und diese genussvoll und völlig unerwartet bricht. Die Erzählung beginnt dabei ganz gewöhnlich: Der Erzähler, ein österreichischer Schriftsteller, soll nach Kanada reisen, um dort mit anderen Österreichern zu lesen. Um den halben Globus reisen, nur um ein paar Landesgenossen zu treffen?! Ganz klar, glaubt man, Setz will hier ähnlich wie Greers Mister Weniger die Absurditäten des Literaturbetriebs foppen. Doch die Reise endet schon am Flughafenterminal, fein beobachtete Bonmots über das Ennui einer Abflughalle und darüber, wie sich eine Beziehung in der Autokorrektur von Chat-Apps verlieren kann, folgen. Dann ein radikaler Bruch: Das Flugzeug hebt nie ab, zurück zuhause hat sich seine Wohnung in eine Art Lazarett verwandelt und die Partnerin wirkt abweisend fremd.
An die Hand genommen wird man in diesen Texten nicht. Verfremdungseffekte begegnen dem Leser immer wieder in Der Trost runder Dinge. In “Die Frau” erwacht zum Beispiel Paul in einer runtergekommenen Wohnung, in der es außer eine Matratze und rätselhafter Angelschnüre nichts weiter gibt. Er wird von einer Frau besucht, die ihn zu umsorgen scheint, ihn aber aus dem Haus schickt, während sie in der Wohnung bleibt. Der Mann vertreibt sich den Tag in der Stadt, besucht verschiedene Lokale, um dort zu schlafen. Die Interaktionen mit anderen Menschen bleiben enervierend elliptisch. Ist Paul nichts weiter als ein Junkie, die Angelschnüre nichts anderes als Spritzen und die Frau am Ende seine Einbildungskraft, die ihm vorgaukelt, nicht ohne eine bedeutsame Verbindung zu sein?
Immer wieder legt Setz falsche Fährten, mit denen er Spannung und Erwartungen schürt, nur um einen Haken zu schlagen. Dann fühlt man sich manchmal fast betrogen, oder eher verdutzt. So ein Schelm, möchte man dann in die aufgeschlagenen Seiten rufen. Wie in “Das alte Haus”: Hier gibt ein Mann vor, den Ort seiner Kindheit zu besuchen. In seiner Jackentasche hält er einen Taser versteckt. Die Erwartung an eine Eskalation zwischen dem wunderlichen Erzähler und den Hausbewohnern bleibt aber aus.
Wie das Unerwartete in den Alltag der Menschen einfällt, ist wieder und wieder Thema der Erzählungen. Dabei zeigt Setz in den stärksten Momenten der Sammlung, wie sich Menschlichkeit im menschlichen Ego verliert. In “Das Christkind” bittet der Vater eines schwerkranken Mädchens einen anderen Mann, ein Licht in seinem Garten einzuschalten, um der Tochter etwas Zauber zur Weihnachtszeit zu schenken. Doch der Nachbar erfüllt die Aufgabe nur widerwillig, die gute, ihm lästige Tat dient letztlich dem eigenen Gewissen. Ähnlich ist “Das Schulfoto”, wo sich der Autor in die Kampfzone schulischer Inklusion wagt. Hier will eine Direktorin einen Mann davon überzeugen, ein Schulfoto zu kaufen, auf dem ein in einer Art eiserner Lunge gefangener Mitschüler der eigenen Tochter abgebildet ist – Mitgefühl, die Wahrung des Gesichts und das eigene Wohlbefinden werden dabei miteinander verhandelt (bedrückenderweise zum Vorteil des Letztgenannten).
Ohnehin geht es oft um den Wunsch, sich besser zu fühlen. Keine Erzählung inszeniert dies so meisterhaft wie “Geteiltes Leid”, in der ein von einer Angststörung geplagter Vater zweier Söhne sich scheinbar nichts sehnlicher wünscht, als den Kindern begreiflich zu machen, wie es sich anfühlt und der es als Besserung seines Zustandes empfinden würde, wenn zumindest einer der Söhne sein Leiden teilt.
Nicht jeder Leser wird willens sein, Setz in diese zu gleichen Teilen absurd komischen wie unangenehmen Szenen zu folgen. Manchmal geraten die vom Autoren verwendeten Verfremdungseffekte zum bloßen Gimmick, wie in der Reiseerzählung “Kvaløya” oder “Spam”, ein fast zehnseitiger, in gebrochenem Google-Translate-Deutsch verfasster Text, der eigentlich unlesbar ist. Nicht aus jeder originellen Idee wächst eben eine gute Erzählung. Darum hätte diesem Band etwas Reduktion gut gestanden, die den Tatendrang des Autos etwas einfängt (mit 36 Jahren bringt er es inzwischen auf zwölf Buchveröffentlichungen).
Unterm Strich ist Der Trost runder Dinge fraglos eine faszinierende Sammlung, die in ihrer Gesamtheit etwas uneben wirkt. Aber wie der Erzähler aus “Geteiltes Leid” weiß, ist Beherrschung eben nicht immer einfach. Dennoch: “Ihm gebührte Applaus” (S. 69).
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Der Trost runder Dinge ist bei Suhrkamp erschienen.