Während in Deutschland die Stadtplaner und Architekten zu viel Schokolade essen und glauben, quadratisch, praktisch, gut sei das Nonplusultra, entsteht in Kopenhagen aufregende, moderne Architektur, die mit der Zeit geht, den Faden zur Vergangenheit aber nicht verloren hat. In Dresden wird mittlerweile jede noch so kleine, vom Krieg geschaffene Lücke eifrig zugebaut. Dabei regiert leider Ideenlosigkeit wohin man schaut: Quadratische Häuser werden nebeneinander gewürfelt, mit vielen Fenstern, aber wenig Originalität, Identität oder Leben. Diese Bauwerke könnten überall stehen. Ein Bezug zur Umgebung erschließt sich dem Betrachter nicht – es sei denn, man will diese Architektur als radikalen Gegenentwurf zur barocken Opulenz oder der Verspieltheit des Historismus der Stadt verstanden sehen. Als Investitionsanlagen verweisen sie letztlich auf nichts weiter als sich selbst und und lassen sich lautmalerisch mit einem gelangweilten ‚meh‘ umschreiben.
Wer aus Dresden kommt, kann zeitgenössischer Architektur selten etwas positives abringen – bis man sieht, dass es eben auch anders geht. Wie die meisten Metropolregionen dieser Welt wächst auch Kopenhagen. Mit Ørestad entsteht zurzeit ein ganzes Wohnviertel. Auch an anderen Stellen wird fleißig gebaut, zum Beispiel in der Umgebung der alten Carslberg-Brauerei. Auf einer am Wasser und auf zum Teil künstlich erschaffenen Inseln gelegenen Stadt ist der Platz nicht unbegrenzt. Anstelle also kleine würfelförmige Wohnhäuser zu bauen, entstehen hier große, ambitionierte Bauten mit dreißig oder mehr Wohnungen. Uniformität, Einerlei und Ideenlosigkeit sucht man dennoch vergebens. Die VM Houses, von Julien De Smedt und Bjarke Ingels entworfen und 2006 als bestes Gebäude Skandinaviens mit dem Forum AID Award ausgezeichnet, bestehen fast nur aus Glasfassaden, die dennoch nicht kühl oder beliebig wirken, sondern eine gewisse Lust an Design versprühen, die auch andernorts zu spüren ist.
Dieses und vergleichbare Projekte wirken anders als die Neubauten Dresdens nicht wie Fremdkörper, die völlig losgelöst jeder Geschichte für sich stehen und sich dem Pragmatismus ergeben haben. Denn auch die alten Wohnhäuser der Stadt haben große Fenster. Zuweilen tut man sich schwer damit, ob ein Gebäude nur gut restauriert oder komplett neugebaut wurde: Große, für Hafenstädte typische Klinkerbauten reihen sich am Wasser auf und atmen durch große Fenster frische Seeluft und lassen die Sonne rein. Letztere scheint natürlich im Norden etwas weniger, was die Neigung zu viel Glas erklären mag. Fenster öffnen Gebäude und, wie es scheint, ihre Bewohner.
Diese Offenheit, die Kopenhagen sich in seine Behausungen geschrieben hat, spiegelt sich auch in den Menschen wieder. Es ist schwer, sich an eine Bar zu setzen und mit niemandem ins Gespräch zu kommen. Die Kommunikation funktioniert wunderbar, denn gefühlt jeder spricht perfektes Englisch. Amerikanische Filme und Serien werden in Skandinavien eben nicht zwangsläufig synchronisiert. Also nix mit kühler Norden, kalte Schulter: Als Besucher fühlt man sich von der Stadt sofort umarmt, auch wenn das Land sich zuletzt verschlossen zeigt und nicht in die Willkommenskultur des Nachbarn einstimmen wollte.
Offenheit und Lust an Architektur spielt auch in Kopenhagens bekanntester Nachbarschaft eine entscheidende Rolle, auch wenn sie auf den ersten Blick als Abgrenzung daherkommt. Die Freistadt Christiania ist eine autonome Gemeinde, gelegen auf einem ehemals militärisch genutzten und in den 1970er Jahren besetzten Gelände. Wer Christiania betritt, verlässt die EU – so steht es zumindest über dem Zugang zur Gemeinde geschrieben. Selbstbestimmt will man hier leben. Das äußert sich zum einen in der Pusherstreet genanten Hauptstraße, in der ganz offen Cannabis-Produkte verkauft werden sowie einer eigenwilligen, kreativen Architektur, die in Eigenregie entsteht – eine Architektur ohne Architekten. Von aus Fensterrahmen bestehenden Behausungen bis Häusern, die man so auch in Mittelerde erwarten würde, gibt es viel zu staunen. Die am Wasser gelegene Nachbarschaft ist immer einen Spaziergang wert, die Atmosphäre ist weitestgehend entspannt, wenn auch etwas touristisch. Ganz ohne Regeln geht es natürlich auch hier nicht: Der Fotoapparat sollte zumindest auf der Pusherstreet in der Tasche bleiben, Autos sind verboten.
Einen Ort wie Christiania kann man sich in Dresden kaum vorstellen. Dafür fehlt eine gewisse Leben-und-Leben-lassen-Mentalität, die solche sozialen Experimente brauchen. Auch die dänischen Behörden sind nicht unbedingt erfreut über die autonome Gemeinde in ihrer Hauptstadt, dulden sie trotz einiger Konflikte aber immerhin. Das Gelände gehört den Einwohnern inzwischen, sodass der Erhalt auf absehbare Zeit als gesichert gilt.
Es ist auffällig, dass es die neuen oder neueren Orte sind, die in Kopenhagen die schönsten Motive bieten. Geradezu blass und schlicht wirkt im Vergleich der königliche Palast. Was die älteren Gebäude betrifft, ist die Erlöserkirche in der Nähe Christianias aber einen Besuch wert. Diese ist in einem ganz anderen Sinne aufregend: Der korkenzieherformige Kirchturm ist von außen bis zur Spitze begehbar. Bei der steilen Brise, die von der See durch die Stadt zu wehen pflegt, ist die Besteigung ein echter Adrenalinkick, der sich hinter den Attraktionen des im Stadtzentrum gelegenen Vergnügungsparks Tivoli absolut nicht zu verstecken braucht. Ohne Frage, wer aufregende Architektur sucht, ist in Kopenhagen genau richtig.