Dresden,  Essay

Körnerplatz, Neujahr: Nichts genaues sieht man nicht

Blaues Wunder DresdenWenn das neue Jahr die 2016-Katerstimmung mit einer großen Dosis Sonnenschein weglächelt, begrüßt man es mit einem Spaziergang. Dabei lassen sich auch prima Menschen beim Umsetzen oder Vergessen der guten Vorsätze beobachten. Von der warmen Tram am Schillerplatz in die Kälte entlassen, staunt man über die Jogger, die zur Elbe traben.

Bei gedrosseltem Tempo schlendert man auf Konfetti-gesäumtem Weg über das blass-blaue Wunder über die Elbe, wo Kinder von ihren Müttern dazu angehalten werden, die aufgereihten Sektflaschen nicht übers Geländer auf die unten geparkten Autos zu schieben. Die Verlockung ist natürlich groß. Scherben bringen in diesem Fall wohl kein Glück, nur erhöhte Adrenalinwerte für alle Beteiligten.

Am Körnerplatz beginnt das neue Jahr mit einer Einsicht: Etwas ungläubig ob der 4 Euro, die für eine Einzelfahrt der Standseilbahn (eine der ältesten der Welt!) abgerufen werden, keimt doch der Gedanke, dass Dresden auch ein bisschen Disneyland ist. Der originalgetreue Nachbau eines barocken Stadtkerns („The Baroque Adventure“) wird durch einige Fahrgeschäfte komplettiert. Der Kick einer Achterbahnfahrt wird durch das Versprechen einer famosen Aussicht ersetzt. Das kommt an: Die Bahn ist bis auf den letzten Sitzplatz voll. Als großer Mensch ist das nicht zwingend angenehm, wenn ein älteres Paar die engen Sitze zur Linken beansprucht und sich die vier Buchstaben an einem entlang zum Polster quetschen. „Sitzen wird man ja wohl noch dürfen!“ Niemand hätte etwas Gegenteiliges behauptet.

Der Transit zwischen Löschwitz – Weißer Hirsch dauert eine Minute und wird via Erläuterungen zu Bahn und Umgebung begleitet. Dinge, die man im Moment interessant findet, aber vergessen hat, sobald sich die Türen wieder öffnen.

Oben angekommen, gibt es lange Gesichter ob des geschlossenen Louisenhofs. Dass dieser nicht profitabel bewirtschaftet wird, ist eines der größeren Mysterien unserer Zeit. Die Aussichtsplattform ist dennoch offen. Verstreute Böllerinnereien lassen vermuten, dass sich der alljährliche Knall-Wahnsinn hier besonders gut beobachten lässt.

Dresden Körnerplatz Elbe Louisenhof

Obwohl es ein klarer Tag mit tief-blauem Himmel ist, gibt die Terrasse des Louisenhofs einen schwummrigen Blick auf das Elbtal frei. Das ist fast schon sinnbildlich für die Situation in dieser Stadt in diesem Land. Die Schrecken und Verunsicherungen des zurückliegenden Jahres noch nicht verdaut wie die Raclette-Völlerei des Vorabends, gibt sich der sprichwörtliche Silberstreif am Horizont noch nicht zu erkennen. Man ahnt es bereits: Auch das neue Jahr wird manch Nebelkerze bereithalten. Und während der öffentliche Diskurs am Tag nach dem Jahreswechsel (Stichwort Köln) schon wieder mit erschreckend klaren Positionen geführt wird, liegt der goldene Mittelweg weiterhin im Verborgenen wie die Ufer links und rechts der Elbe.

Der Weg zurück zum Körnerplatz führt vorbei an Häusern, in denen man sich das schöne Leben gut vorstellen kann. Träumen ist erlaubt. Schneller zu befriedigen ist der Wunsch nach einem Heißgetränk. Dafür ist das Kaffee Wippler als erste Adresse am Platz stadtbekannt. Folglich wird es wieder eng: alle Tische sind bis auf den letzten Stuhl besetzt und mit Torten-Stücken gedeckt. Heute gilt: erhalten, was man sich über die Feiertage erarbeitet hat. Auf einen leeren Tisch wartend, schweift der Blick zwischen Tortenangebot und anwesenden Gästen hin und her. Schau an: Auch Dresdens bekanntester Politikwissenschaftler ist dabei.

Gut zehn Minuten später ist ein Tisch ergattert und eine Runde Torte mit Kaffee bestellt. Richtig gemütlich wird es nicht – wurde das Heizen wegen der sich im Minutentakt öffnenden Türen aufgegeben? Man wärmt sich am Gedanken, dass Kälte den Kalorienverbrauch erhöht.