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Es werde Mensch: Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten von Emma Braslavsky

Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten von Emma BraslavskyBerlin, nahe Zukunft: Niemand muss mehr allein sein, denn jeder kann jetzt seinen personalisierten Partner haben. Der Robotik sei Dank. Und doch: Noch nie haben so viele Menschen Suizid begangen – sodass die Stadt eigens eine Sonderermittlungseinheit ins Leben gerufen hat, um die mit den Selbstmorden verbundenen Kosten niedrig zu halten. In Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten lässt Emma Braslavsky ausgerechnet einer KI-Sonderermittlerin die Aufgabe zuteil werden, menschlich zu sein.

Schöne neue Welt: Im ersten Kapitel von Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten lernen wir Lennard kennen, der sich eine Wohnung mit Beata teilt, ein sogenannter Hubot. Sie ist die abgelegte personalisierte Partnerin seines Vermieters, trägt nun aber seine Kennung, ist ihm ergeben. Anders als seine Ex-Frau ist Beata “nicht bitter, nicht eitel, nicht selbstsüchtig, auch nicht herrschsüchtig und verletzend. Aber eben auch nicht liebevoll und zärtlich. Sie hatte diese Programme nicht installiert bekommen” (13). Das häusliche Glück ist also auch mit der künstlichen Intelligenz nicht perfekt. Auch sonst läuft es nicht gut: Beruflich gescheitert, von den Eltern entfremdet, zieht Lennard mit Beata durch die Stadt, nimmt Drogen, schwirrt durch die Nacht. Am Ende des Kapitels ertränkt er sich in einem See. Beata bleibt zurück, ein Roboter, der trauert, dazu verdammt ist, weil seine Programme das verlangen. Und sinnentfremdet obendrein, bis sie die Kennung eines Anderen bekommt oder von der Straße gefischt und als Ersatzteillager missbraucht wird. Als Leser hat man mehr Mitgefühl mit diesem künstlichen Wesen als mit den echten Menschen.

Mit dem Selbstmord wird schließlich die KI-Sonderermittlerin Roberta beauftragt. Sie ist die erste ihrer Art. Die Stadt hat eine Einheit gebildet, die sich mit den Suiziden befasst. Das Problem wächst zu einer Epidemie aus:

Mehr Menschen starben durch Selbsttötungen als durch Verkehrsunfälle oder Gewaltverbrechen, und seit diesem Jahr auch knapp mehr als durch Krankheiten (74).

Es geht nicht darum, die Zahl der Selbstmorde zu reduzieren. Denn da immer mehr Menschen nur noch mit ihren personalisierten Robotern verbunden sind, gibt es kaum Verwandte, die die Kosten für die Bestattungen übernehmen. Hier steht die Belastung für den Sozialstaat also im Fokus. Ziel der Einheit ist es sodann, Menschen ausfindig zu machen, die für die Bestattungen der Selbstmörder aufkommen. Knapp zwei Wochen haben sie dafür Zeit. Der Erfolg dieser Unternehmungen hält sich in Grenzen. Roberta soll mehr Effizienz bringen. Lennard ist ihr erster Fall.

Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten ist ein humorvoller, spannender, vor allem aber kluger Text, der in seiner Verhandlung von künstlicher Intelligenz und deutschem Bürokratentum nach der conditio humana fragt. Aus den Fäden der Gegenwart, in der Menschen das Leben mehr und mehr in digitale soziale Netzwerke verlagern und in der analogen Welt vereinsamen, spinnt Emma Braslavsky eine konsequente Zukunftsvision: Selbstbespiegelung und Anerkennung müssen nicht mehr auf Dating-Plattformen gesucht werden, weil diese jetzt bequem in Form eines personalisierten Hubots zu bestellen sind.

Der Roman zeigt auch einen überlasteten, gefühllosen Verwaltungsapparat, in dem Zuständigkeiten (und somit Verantwortung) weitergeschoben werden und wenig Platz für Menschlichkeit bleibt. Und so ist es dann Roberta, die als künstliche Intelligenz anfangs ohne eigene Persönlichkeit ist, diese im Zuge ihrer Ermittlungen dann mehr und mehr ausbildet, immer menschlicher wird, während die Menschen eher Robotern gleichen. Roberta ist die Einzige, die am Menschen Lennard interessiert ist – und ihn nicht als Kostenfaktor sieht. Dabei streift der Roman auch Diskurse wie Geschlecht (z.B. ist die Frage interessant, warum Roberta weiblicher Gestalt ist), fragt nach Bewusstsein und lotet den Wert zwischenmenschlicher Beziehungen in einer egoistischen Welt aus (Verantwortung füreinander übernehmen). Es ist nicht unbedingt eine optimistische Diagnose, die Emma Braslavsky mit ihrem Roman in Bezug auf den Vormarsch der Digitalisierung stellt. Dass sich Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten trotz allem Existenzialismus äußerst unterhaltsam liest, ist ein Glücksfall.

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Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten ist bei Suhrkamp erschienen.